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Eine Gruppe junger Leute sitzt entspannt und fröhlich im Gras. Sie befinden sich an einem hügeligen Meeresufer, im Hintergrund geht die Sonne unter.

Leben in einer unsicheren Welt: Ein Gespräch mit Luise Reddemann

Die Welt, in der wir leben, ist ein unsicherer Ort – das hat uns die Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt. Das Virus und die Maßnahmen zu seiner Eindämmung treffen uns auf einer existenziellen Ebene, so Luise Reddemann. Die Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin hält es für wichtig, dass wir auch die psychischen Folgen dieser Krise nicht aus den Augen verlieren, und spricht mit uns darüber, was wir als Einzelne und als Gesellschaft aus Zeiten wie diesen lernen können und was uns hilft, mit den psychischen Herausforderungen umzugehen.

Text und Interview: Norbert Classen | Foto: Mike Swigunski

Jahrzehntelang hat Luise Reddemann Patienten in einer Übung dazu angeleitet, sich einen „sicheren Ort“ vorzustellen, doch zu jener Zeit hatte sie sich selbst noch nicht vorstellen können, dass unsere gesamte Welt unsicher sein könnte. „Wir hatten Mitgefühl mit PatientInnen“, schreibt sie aus der Perspektive der Therapeutin, „die durch schwere Traumatisierungen so etwas wie ein Sicherheitsgefühl nie gehabt oder früh verloren hatten. Wir dachten aber nicht, dass wir nun alle davon heimgesucht würden, uns – bis auf Weiteres – in der Welt an keinem Ort mehr sicher fühlen zu können. Wenn uns von weisen Menschen gesagt wurde, dass es keine Sicherheit gebe, weil die Welt so nicht gemacht sei, haben wir das schnell beiseitegeschoben und uns wieder beruhigt.“

Fürsorge versus Inzidenzen
In der aktuellen Situation ist unser Augenmerk mehr auf Zahlen und Fakten, auf Inzidenzen und Impfstatistiken gerichtet als auf die psychische Gesundheit. Im Interview frage ich die Traumatherapeutin, wie es mit den akuten und Langzeitfolgen für unsere Psyche aussieht. „Es fängt an, sich zu zeigen, dass die psychische Gesundheit vermehrt leidet. Vor allem bei Menschen, die ohnehin schon schlimme Erfahrungen gemacht haben und dadurch noch mehr verunsichert und irritiert sind. Mir geht es immer um Fürsorge: füreinander da sein, liebevoll miteinander umgehen, sich gegenseitig unterstützen. Natürlich passiert das an vielen Stellen. Von der Politik höre ich diesbezüglich jedoch wenig.“
„Die sozial Benachteiligten sind besonders schlimm dran“, betont Reddemann. „Ich finde es wunderbar, dass derzeit in Köln bevorzugt in den Gebieten, in denen viele Arme auf engem Raum zusammenleben, geimpft wird. Und dass die Oberbürgermeisterin das auch gegen Vorgaben der Regierung macht. Fürsorge, Unterstützung, einfach für die Menschen da zu sein, die es eh schon schwer haben, und ihnen das Leben nicht noch schwerer zu machen. Genau das ist leider oft der Fall, denn zum Beispiel bei den Kindern, die nicht beschult werden, hängt es ja an den Eltern. Und dann ist klar, dass diejenigen, die gebildet sind, das irgendwie hinkriegen. Die unterstützen ihre Kinder. Die Kinder von armen Leuten fallen jetzt aber erst recht hinten runter. Es wird seit Jahren kritisiert, dass Deutschland in dieser Hinsicht ziemlich schlecht dasteht, und nichts passiert. Da müsste die Politik meines Erachtens handeln, nicht nur reden!“

Ein neues Memento mori
Was können wir aus Zeiten wie diesen noch lernen, möchte ich wissen. „Zum Beispiel, dass wir sterbliche Wesen sind und es uns besser ginge, wenn wir das anerkennen würden“, so Luise Reddemann. „Wir sind Menschen, und zum Menschsein gehört die Endlichkeit – alles auf der Erde ist vergänglich und im steten Wandel, den man akzeptieren lernen muss.“
Der Philosoph Walter Benjamin hat einmal gesagt: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit, und die ist immer die gleiche: der Tod.“ Ganz in diesem Sinne kritisiert Luise Reddemann das verbreitete Fehlen eines Memento mori, einer Bewusstheit der eigenen Vergänglichkeit. „Erst die Akzeptanz unserer eigenen Sterblichkeit verleiht unserem Leben Kraft und Würde“, betont sie, „denn erst die Bewusstheit des Todes lehrt uns, die Kostbarkeit des Lebens zu erkennen und das ethisch und gefühlsmäßig Beste daraus zu machen.“
„Im Taoismus ist das selbstverständlich, und wenn wir das im Westen auch mehr akzeptieren könnten, würde es uns, glaube ich, besser gehen“, ergänzt sie. „Weil wir dann jeden Tag dankbar genießen würden, statt ständig zu meinen, wir müssten irgendetwas besser, schneller und noch großartiger machen.“ (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus der Sommer-Ausgabe 02/2021: Abenteuer. Vom Reisen in die Welt und zu uns selbst.

„Es fängt an, sich zu zeigen, dass die psychische Gesundheit vermehrt leidet. Vor allem bei Menschen, die ohnehin schon schlimme Erfahrungen
gemacht haben und dadurch noch mehr verunsichert und irritiert sind. Mir geht es immer um Fürsorge: füreinander da sein, liebevoll miteinander umgehen, sich gegenseitig unterstützen. (…) Von der Politik höre ich diesbezüglich
jedoch wenig.“

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