Nina Grimm, zweifache Mutter, Paartherapeutin und Familienpsychologin, zeigt mit ihrem einfühlsamen und praxisnahen Ansatz, wie uns alte innere Fahrpläne in stressigen Momenten blockieren – und wie wir mit Achtsamkeit und Selbstregulation wieder gelassen werden können. Ein Artikel voller praktischer Impulse, um im Chaos des Alltags Ruhe und Stärke zu bewahren.
Text: Nina Grimm | Illustration: Roman Samborskyi
Martina (39), CEO einer internationalen Inneneinrichtungsfirma, managt täglich komplexe zwischenmenschliche Herausforderungen spielerisch, auch wenn es gut und gerne mal um Entscheidungen im Millionenbereich geht. Aber zu Hause rastet sie aus, wenn ihrem Kind ein Wasserglas umkippt.
Es ist eher unser inneres System, das uns aus dem Gleichgewicht bringt, als der unfreundliche Kollege, die lange To-do-Liste, die komplexe Entscheidung, die motzende Partnerin oder der wütende Teenager im Chaoszimmer. Grob gesagt gibt es zwei Störfaktoren für deine innere Gelassenheit: Erschöpfung und einen unbewussten innerpsychischen Fahrplan. Die gute Nachricht: In beiden Fällen haben wir die Möglichkeit, aktiv etwas zu verändern. Damit wir trotz – oder gerade wegen – äußerer Unruhe die Fassung bewahren können. Genau darum soll es in diesem Artikel gehen.
Zeit ist NICHT das Problem
Es ist schon lange nicht mehr zu übersehen, dass das eine wilde Zeit ist. Wir leben in einer krassen Schnelllebigkeit, die uns, befeuert durch Informationsflut und sozialen Vergleich, in die Außenfokussierung bringt. Wir sind ständig im Doing und im Achieving, gefühlt gezwungenermaßen. Wir müssen funktionieren – beruflich, in der Erziehung, im Bett und in der Freizeit. Wir sind zu selten im Sein – und das ist anstrengend. Wer dauerhaft angestrengt ist, kann aus rein neuropsychologischen und biochemischen Gründen gar nicht mehr besonnen sein. Es ist schlicht nicht möglich.
Wir alle kennen das: Wenn wir ausgeruht sind, bringt uns der Wutanfall unseres Kindes nicht so leicht aus der Fassung wie in Zeiten, in denen wir gestresst und eh schon unter Druck sind. Dieses Phänomen war allerdings auch schon in den 1980ern ein menschliches Problem. Auch damals hatten die Menschen, wie in jeder Generation, subjektiv plausible, äußere Erklärungen dafür, warum sie unter Stress standen. Und so wird es sehr wahrscheinlich auch immer bleiben. Zeit haben wir nie, wir müssen sie uns nehmen. Zeit, um mit uns selbst in Kontakt zu kommen. Mit klarem Ziel: Um trotz äußerem Chaos innerlich Ruhe bewahren zu können, müssen wir den Moment mitbekommen, in dem wir zu kippen beginnen.
Kippmomente sind der Schlüssel
Oft stehen wir vor der Herausforderung, dass Momente der Anspannung Situationen sind, in denen wir gerade keinen Powernap machen können. Powernaps sind nett und tun definitiv gut. Aber um dauerhaft und vor allem in den Stressmomenten die innere Ruhe bewahren zu können, braucht es mehr als das. Es braucht eine neue Form der Selbstbeziehung: einen feineren Kontakt zu uns selbst, um zu fühlen, wenn sich z.B. eine Spannung aufzubauen beginnt. Um uns selbst wichtig genug zu nehmen, damit wir diesen Moment nicht übergehen. Wir brauchen das Wissen, wie wir uns selbst regulieren können. Um genau das an die erste Stelle zu setzen, sobald wir an unseren Kippmoment kommen. Nicht, weil wir egozentrisch werden und uns links und rechts nicht mehr um unsere Liebsten kümmern sollten, sondern, weil wir die Tatsache anerkennen, dass wir der Kirschbaum sind: Nur wenn wir in unserer Blüte stehen, können sich andere an uns nähren. Zeit also, dass wir wieder zur wichtigsten Variable unserer Gleichung werden – um uns vor allem in den hektischen Momenten rechtzeitig einen Moment für uns zu nehmen und uns aufrichtig die Frage zu stellen: Was brauche ich jetzt, um gut durch diesen Moment zu kommen?
Martina war schon vor ihrem Wasserglas-Ausraster seit einer ganzen Weile unter Spannung, und ihr Kippmoment war eigentlich schon eine halbe Stunde vorher: Als sie die Kinder nach der Arbeit abholte und es mal wieder Streit gab, wer vorne sitzen darf. Das war der Moment, in dem sie bestenfalls kurz innegehalten hätte, um zu spüren: Jetzt baut sich Spannung auf. Wir tun uns keinen Gefallen, an diesen Punkten im ewigen Doing zu bleiben. Es ist ein riesiger Gewinn für alle, wenn wir kurz stehen bleiben – um uns selbst zu berücksichtigen, solange wir noch handlungsfähig sind. Vielleicht denkst du dir jetzt: „Ja, klingt ganz nett. Theoretisch ist mir das auch klar – nur kriege ich es praktisch nicht umgesetzt.“ Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass dein innerpsychischer Fahrplan nicht vorsieht, dass beispielsweise Fünfe auch mal gerade sein dürfen und „sich selbst wichtig nehmen“ für dein inneres System klingt wie ein Mash-up aus Japanisch und Honolulu. Lohnenswert ist es also, sich an dieser Stelle anzuschauen, wie wir mit diesen unbewussten Mustern konstruktiv umgehen können.
Innere Fahrpläne erkennen und durchbrechen
Sicher hattest du schon mal einen Moment wie Martina, die zwar noch in dem Augenblick, in dem sie ihre Kinder wegen des Wasserglases anbrüllt, merkt: „Keine gute Idee!“ und „Vollkommen unnötig“, aber trotzdem wie gefangen ist in ihrer Haut. Und einfach nicht aufhören kann. Obwohl sie gar nicht brüllen will. Wenn dir das bekannt vorkommt, liegt das sehr wahrscheinlich daran, dass du in einer unbewussten Dynamik gefangen bist. Die kannst du dir vorstellen wie eine Art innerpsychischen Fahrplan, der dir eine Orientierung gibt, wie du dich in dieser Welt zu bewegen hast, um in ihr zu bestehen.
Ein innerpsychischer Fahrplan besteht aus drei Modi und entwickelt sich in den meisten Fällen, wenn in der frühen Kindheit eines der fünf emotionalen Grundbedürfnisse nicht erfüllt wird: Sicherheit, Autonomie, Grenzen, bedingungslose Liebe, Spiel und Spontanität. Hieraus formt sich der Kind-Modus. Das Kind entwickelt dann Strategien, um sich seine Bedürfnisse zu erfüllen (Bewältigungsmodus), beispielsweise, sich selbst zurückzustellen, um Zuwendung zu bekommen. Da das Kind mit diesen Strategien kurzfristig bekommt, was es braucht, wird dieses Verhalten als ein funktionales Prinzip gespeichert. Um das aufrechterhalten zu können, entwickelt das Kind eine weitere Instanz, die sich genau darum kümmert: Zum Beispiel in Form von beschämenden inneren Stimmen, um sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen (Elternteil- Modus). So formt sich nach und nach ein innerer Fahrplan, wie wir mit uns selbst und mit der Welt umgehen müssen, um in ihr bestehen zu können. (…) Mehr