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Porträtaufnahme von Ulrich Ott.

Was haben Spiritualität und Wissenschaft gemeinsam? Meditationsforscher Ulrich Ott im Interview

Für den Psychologen und Meditationsforscher Dr. Ulrich Ott sind Spiritualität und Wissenschaft kein Widerspruch. Am Bender Institute of Neuroimaging an der Universität Gießen erforscht er seit Jahrzehnten die Psychophysiologie veränderter Bewusstseinszustände und erklärt im Gespräch, warum Spiritualität nicht nur ein legitimer Forschungsgegenstand ist, sondern sogar Ähnlichkeiten mit der modernen Wissenschaft aufweist. Einen Video-Ausschnitt des Interviews erhalten Sie über den moment by moment Newsletter.

Interview: Norbert Classen | Foto: Anna Voelske

In Ihrer Forschung konzentrieren Sie sich unter anderem auf sogenannte veränderte Bewusstseinszustände. Was genau verstehen Sie darunter?

Veränderte Bewusstseinszustände sind von der Definition her alle Zustände, die gegenüber dem normalen Wachbewusstsein verändert sind, das wären z.B. ein Traumzustand, der Tiefschlaf und im Wachzustand vor allem tranceartige Zustände, aber auch mystische Erfahrungen – also Zustände, in denen sich unser normales, konventionelles Weltbild deutlich verändert: das Verhältnis von mir zur Welt, das Zeitempfinden, das Raumempfinden. Es gibt z.B. in mystischen Zuständen diese Alleinheitserfahrung, in der sich die normale Trennung zwischen Ich und Welt aufzulösen scheint. Es ist also ein ganzes Spektrum verschiedener Bewusstseinszustände.

Welche Wege gibt es, solche Bewusstseinszustände zu erreichen? Und welche Rolle spielen da Meditation und Achtsamkeit?

Es gibt verschiedene Ansätze, diese veränderten Bewusstseinszustände zu induzieren, z.B. durch Hypnose. Manchmal treten sie auch spontan auf, wie z.B. im Schlaf oder Traum. Und dann gibt es psychologische Methoden, von denen die Meditation die mit am weitesten verbreitete ist, wobei nicht unbedingt sofort ein veränderter Bewusstseinszustand auftreten muss. Am Anfang gibt es verschiedene Stadien, da geht es zunächst darum, den Körper deutlicher wahrzunehmen, die Spannungen, die eventuell noch vorherrschen, loszulassen, sowohl körperlich als auch emotional, als auch mental – wenn noch Konflikte im Kopf kreisen, dann merkt man das in der Meditation zu Anfang sehr stark, weil man ein Objekt wählt, auf das man die Aufmerksamkeit richtet, und dann wieder abschweift und wieder zurückkehrt. Meditation kann zur Entspannung genutzt werden, zur Stressreduktion – das ist für viele die Einstiegsmotivation. Dann kommen Zustände, die tiefer gehen, das können sehr starke positive Emotionen sein, wie Frieden, Glück, Glückseligkeit, aber auch Dankbarkeit, Demut, Gnade. Und die tiefsten Erfahrungen, da sind sich die verschiedenen Traditionen relativ einig, werden mit Begriffen wie Unio mystica, also Einheitserfahrung, samadhi, satori, kensho – Selbst-Wesens-Schau –, Erwachen, Erleuchtung bezeichnet. Das ist allerdings, wenn man es wissenschaftlich untersucht, am schwierigsten im Labor hervorzurufen. Deswegen werden diese mystischen Erfahrungen experimentell vor allem mit psychedelischen Substanzen wie LSD, DMT oder Psilocybin untersucht, die ab einer gewissen Dosis relativ zuverlässig markante Veränderungen in der Selbst- und Weltwahrnehmung hervorrufen können.

Wie werden veränderte Bewusstseinszustände in der Praxis erforscht?

Sie haben die psychologischen Hauptmethoden der Befragung in Interviews und mit Fragebögen. Zum Beispiel gibt es einen Mystical Experience Questionnaire, der jeweils die verschiedenen Facetten mystischer Erfahrungen abbildet, wie stark so etwas vorliegt wie eine Alleinheits- oder Glückseligkeitserfahrung oder dass sich das Raum-Zeit-Gefühl auflöst. Ein Merkmal dieser Erfahrungen ist, dass man sie schwer beschreiben kann; die Unbeschreiblichkeit mit Worten ist ein eigener Punkt dieses Fragebogens. Das andere ist, die physiologischen Begleitprozesse zu untersuchen. Das kann Peripherpsychologie sein, also beispielsweise Veränderungen der Herzaktivität oder der Hautleitfähigkeit, aber im Zentrum steht das Gehirn, d.h., das sind Studien mit EEG (Elektroenzephalografie) und, was wir in Gießen auch machen, funktioneller Magnetresonanztomografie. Die kennen bestimmt viele Leser: Man wird in diese Röhre reingefahren – es ist relativ laut –, und am Anfang hat man gedacht, Meditationsforschung kann man damit gar nicht betreiben. Es gibt Meditierende, die sagen: „Nee, im Liegen und dann mit diesem Lärmpegel, da ist es unmöglich, zu meditieren.“ Aber es gibt doch eine ganze Menge Meditierende, die sagen, wenn sie da rauskommen, sie können wunderbar meditieren, sie hören zwar das Geräusch des Scanners, aber das ist absolut monoton, und sie hören nichts anderes. Sie haben ein bisschen ein Gefühl wie in einer Raumkapsel, sie sind ja vollkommen abgeschirmt von der Welt. Und es gibt durchaus Meditierende, die sagen, sie könnten unter dieser Versuchsbedingung auch nichtduale Zustände verwirklichen. Da schaut man dann, welche Hirnregionen eine verstärkte Aktivierung zeigen oder auch eine Deaktivierung. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus der Sommer-Ausgabe 02/2021: Abenteuer. Vom Reisen in die Welt und zu uns selbst.

„Ich wüsste nicht, wie
ich auf anderem Wege diese Fragen „Wer bin ich? Was will ich wirklich? Warum bin ich hier? Was ist die Welt?“ verstehen könnte, außer durch eine tiefgründige Analyse und Schulung der Wahrnehmung auf einem spirituellen Weg.“

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