Moment by Moment

Nahtod als Neuanfang

Überwältigende Glücksgefühle, außerkörperliche Erfahrungen, ein Tunnel, der zu einem Licht führt, das klare Bewusstsein, tot zu sein – so schildern Menschen, die klinisch tot waren, ihre Erinnerungen an den Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass solche Nahtoderfahrungen viel häufiger sind als gedacht und nicht nur die naturwissenschaftlichen Ansichten über Tod und Bewusstsein infrage stellen, sondern die Betroffenen oft von Grund auf verändern und in ein neues Leben führen.


Text: Michael Schornstheimer | Foto: Ales Krivec

Seit Jahrtausenden beschäftigt Menschen die Frage, was nach dem Tod geschieht. Die Religionen gehen vom Fortbestand unseres Bewusstseins aus, während der wissenschaftliche Konsens den Tod als Ende unserer Existenz betrachtet. Nahtoderfahrungen wurden dabei lange als seltene Halluzinationen abgetan, verursacht durch den Sauerstoffmangel im sterbenden Gehirn. Die systematischen Forschungen aufgeschlossener Wissenschaftler und Ärzte werfen nun neues Licht auf das Phänomen und zeigen, dass Nahtoderfahrungen weder selten noch ein Fantasieprodukt sind.

Wolfgang Knüll, der als Allgemeinmediziner vierzig Jahre eine Praxis in Köln führte, befasst sich seit über 45 Jahren mit dem Phänomen. Inzwischen ist er Ende 60 und im Ruhestand. Doch die Nahtoderfahrungen lassen ihn nicht los. Darauf gestoßen ist er eher zufällig. Man könnte sagen, nicht er hat sich das Forschungsgebiet ausgesucht, sondern das Forschungsgebiet ihn. Als junger Arzt war er am Aufbau einer Intensivstation beteiligt. Das Team verfügte über einen EKG-Monitor, ein Beatmungsgerät von der Größe eines Schreibtischs und einen damals neuartigen Koffer, einen sogenannten Defibrillator, mit dem man mittels Elektroschocks ein stillstehendes Herz wieder zum Schlagen bringen konnte.

Ein Ding der Unmöglichkeit

Bei einem älteren Patienten wurde er Zeuge einer Nahtoderfahrung, wobei der Begriff damals noch gar nicht existierte. Der Patient wurde nach einer Herzattacke mit akutem Kreislaufversagen bewusstlos und blieb mehrere Minuten ohne messbaren Blutdruck. Mit dem Defibrillator gelang es, den Mann zu reanimieren. Benommen erzählte er von gleißendem Licht, wunderbarer Musik und von Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen. Aus wissenschaftlicher Perspektive ein Ding der Unmöglichkeit. Denn ein Gehirn, das bei Herzstillstand mangels Durchblutung keinen Sauerstoff mehr bekommt, stellt seine Aktivität bereits nach wenigen Sekunden ein. Bewusstlosigkeit bedeutet nach herkömmlicher medizinischer Auffassung: Der Mensch kann nichts mehr spüren, sehen, hören oder erinnern. Insofern stellen solche Nahtoderfahrungen zwei allgemein akzeptierte Grundsätze der Naturwissenschaft infrage: Das Gehirn erzeugt das Bewusstsein und der Tod ist das Ende des Lebens.

„Wenn wir über Nahtod reden“, erläutert Wolfgang Knüll, „dann reden wir über das Bewusstsein von Nahtoderfahrung oder genauer: Todeserfahrung. Da weiß man nicht, was geschieht. Es ist nicht möglich, das mit Gehirnaktivität zu erklären, denn das Gehirn ist dann nicht aktiv. Wir sprechen von einer Situation des klinischen Todes. Und der klinische Tod ist kein Zustandsbegriff, sondern er markiert eine Phase, in der die Herzzellen noch reversibel sind und durch eine Wiederbelebung aktiviert werden können. Aber de facto ist der Mensch in diesem Augenblick tot. So war das vor der Reanimationsmedizin immer. Und in diesem Moment haben die Menschen Erfahrungen in einem erweiterten Bewusstseinszustand.“

Es geht also um das Bewusstsein bei Herzstillstand und gleichzeitiger Bewusstlosigkeit. Zwar existieren Beschreibungen solcher Erfahrungen auch in Situationen von akutem Schock, plötzlichen Blutverlusten, Verkehrsunfällen und Suizidversuchen, doch Wolfgang Knüll beschäftigt sich mit Nahtoderfahrungen während des Herz-Kreislauf-Stillstands, also wenn Menschen als „klinisch tot“ gelten. Denn dann sei die Nahtoderfahrung besonders rätselhaft.

Außerkörperliche Erfahrungen

Knüll beschreibt verblüffende Beispiele solcher Erfahrungen an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Ein zentrales Phänomen ist die außerkörperliche Erfahrung. Viele Betroffene erzählen übereinstimmend, dass sie ihren Körper verlassen haben und im OP-Raum an der Zimmerdecke schwebten oder sogar über dem Gebäude, in dem sie sich befanden.

„Merkwürdigerweise ist ihnen in dem Moment ihr Körper völlig egal“, ergänzt Wolfgang Knüll. „Er scheint ihnen auf einmal fremd zu sein. Eine kanadische Sängerin, Pamela Reynolds, sah sich da unten liegen und sagte, dieses Wrack da unten, das bin ich nicht. Sie lag auf einem OP-Tisch, Augen abgeklebt, Ohren verschlossen. Weil sie am Gehirn operiert wurde, musste das so sein. Da war sie aus ihrem Körper schon raus. Sie sah den Operateur dort stehen, der eine elektrische Zahnbürste in der Hand hielt. (…)

Mehr

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie weiterlesen? Unsere Ausgabe „Neustart“ können Sie bequem online bestellen.

Zur Ausgabe „Neustart“ im Shop

Scroll to Top