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Porträtaufnahme der Künstlerin Marina Abramović

Im Gespräch mit Marina Abramović

Sie ist im New Yorker Museum of Modern Art aufgetreten und hat die Chinesische Mauer erwandert: Die vielfach preisgekrönte serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović geht immer wieder an und über Grenzen hinaus. Wie bei ihrer Performance „The Artist is Present“, bei der 750.000 Museumsbesucher insgesamt 721 Stunden lang ihr gegenüber Platz nahmen, um ihr in die Augen zu schauen. Eine bedeutende Rolle spielen bei der heute 75-jährigen Ausnahmekünstlerin ihre eigene Meditationspraxis und die Stille, die sich wie ein roter Faden durch ihr beeindruckendes Lebenswerk ziehen.

Interview: Stefanie Hammer und Norbert Classen

Stefanie: Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, ein paar Fragen zu beantworten! Marina, was ist für dich Kreativität und wie definierst du sie?

Marina: Wow! Warum muss ich so früh am Morgen in New York so tiefschürfende Fragen beantworten? Ich denke nie über Kreativität nach, weil ich glaube, dass ich kreativ geboren bin. Seit meiner Kindheit habe ich immer Dinge gemacht, die kreativ sind. Wahrscheinlich steckt das in meiner DNA. Wenn ich darüber nachdenke, halte ich Kreativität für eine Art Drang des Menschen, etwas Neues zu schaffen, selbst wenn es etwas ganz Einfaches ist, was aber einen anderen Blick auf die Realität vermittelt. Etwas zu schaffen, was aus dem Rahmen fällt, etwas Besonderes, etwas, was anders ist. Einfach Dinge zu tun, die sogar einen selbst überraschen.

Stefanie: In deinen Performances und Workshops beziehst du stets Schweigen und Stille mit ein. Marina, wie beeinflusst das die Wahrnehmung?

Marina: Ich denke, weil wir ständig in Bewegung sind, sind wir andauernd im Gespräch, wir reden ununterbrochen, wir hören ständig etwas, tun etwas und gehen gleichzeitig. Das sind ständig so viele Aktivitäten, dass wir die wahre Realität gar nicht mehr wahrnehmen können, aufgrund der ganzen Geschäftigkeit und aufgrund dessen, wie wir als Menschen mit dem Leben umgehen. Ich denke, wenn man einfach aufhört, wenn man tatsächlich aufhört, sich zu bewegen – es gibt ohnehin schon genug Bewegung, unser Planet Erde, der sich ständig um seine eigene Achse dreht und dann auch noch um die Sonne. Und die Sonne und unser Planet drehen sich permanent um das Zentrum unserer Milchstraße, und auch die Milchstraße dreht sich rasend schnell um irgendetwas. (Marina wippt dabei ständig unruhig in ihrem Sessel, um die unablässige Bewegung zu verdeutlichen.) Es gibt schon so viel Bewegung! Wenn wir also wirklich einen Moment innehalten und uns daran erinnern, dass die einzige Realität, die wir haben, das Hier und Jetzt ist, ist das von zentraler Bedeutung. Alles verändert sich, unsere Wahrnehmung der Welt wandelt sich, aber auch die Art und Weise, wie wir Wissen empfangen, wie wir verstehen, wer wir sind, was wir sind und warum wir hier sind. Man muss erst einmal aufhören, Dinge zu tun, um den Prozess des Denkens zu beginnen.

Norbert: Du hast einmal gesagt, dass du bei deinen Auftritten eins mit dem Publikum wirst und nicht länger du selbst bist. Kannst du uns diese Erfahrung näher beschreiben?

Marina: Das ist sehr einfach: Wenn ich irgendeine meiner Performances vorher ausprobieren würde, wie eine Art Schauspielprobe, würde ich sie nie machen, weil sie mir sofort unglaublich schwierig vorkommen würden. Dann kommt diese kleine arme Marina aus mir heraus und sagt: „Bist du völlig verrückt? Warum machst du das überhaupt?“ Aber ich kreiere ein Statement und formuliere sehr präzise Vorgaben für das, was ich tun werde. Auf diese Weise erschaffe ich eine Situation, in der ich vor dem Publikum stehe, und dann, egal was, egal wie schwierig es ist, egal wie gefährlich es ist, egal wie schmerzhaft es ist, werde ich es tun, weil ich die Energie des Publikums nutzen kann, die dann tatsächlich vor Ort vorhanden ist. Und diese Energie des Publikums bewirkt auch eine Veränderung in mir selbst, in meiner Rolle, denn es geht nicht mehr länger nur um mich, sondern um das Publikum und mich zusammen. Diese Veränderung ist bereits in dem Moment eingetreten, als ich aufgetreten bin, denn ich bin bei meinen Performances nie allein.

Norbert: Bei deinen Auftritten verlässt du immer wieder deine Komfortzone und gehst weit über deine Grenzen hinaus. Wie gehst du mit dem aufkommenden Widerstand, dem Schmerz und dem körperlichen und geistigen Leiden um?

Marina: Sehr gut (lacht). Ich mache das ja schon 50 Jahre meines Lebens, und nach diesen 50 Jahren beginne ich, wirklich Erfahrung zu haben, Wissen und eine gewisse Weisheit. Ich will es einfach wissen. Eines meiner sehr, sehr schwierigen Stücke, The Artist is Present, habe ich gemacht, als ich bereits 65 Jahre alt war, nicht in meiner Jugend oder mit 20, 30 oder 40 Jahren. Nicht, weil ich damals keine Energie dafür gehabt hätte – davon hatte ich wahrscheinlich mehr als jetzt –, aber ich hatte nicht die Weisheit, nicht das Wissen und nicht die nötigen Werkzeuge, wie ich tatsächlich mit meinem Verstand arbeiten kann und wie er mit der Willenskraft und alldem arbeiten kann, um das wirklich umzusetzen und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Man braucht Zeit und man braucht Weisheit, um dorthin zu gelangen. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Sommer-Ausgabe 02/2022: Kreativität. Die schöpferische Kraft in uns selbst entdecken.

„Wenn wir wirklich einen Moment innehalten und uns daran erinnern, dass die einzige Realität, die wir haben, das Hier und Jetzt ist, ist das von zentraler Bedeutung.“

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