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Porträtaufnahme der Meditationslehrerin und Psychologin Tara Brach. Bild dient zur Illustration der Leseprobe des Interviews mit Tara Brach über ihre Arbeit und die zentrale Bedeutung des Selbstmitgefühls

Tara Brach im Interview

Als Meditationslehrerin und Psychologin verbindet Tara Brach westliche Psychologie mit östlichen spirituellen Praktiken, um unsere Aufmerksamkeit für unser inneres Leben zu stärken und einen mitfühlenden Umgang mit uns selbst und der Welt zu fördern. Die Gründerin der Insight Meditation Community von Washington hat Tausende Menschen in 74 Ländern unterrichtet, darunter Mitarbeiter des US-Senats. Wir sprechen mit ihr über ihre Arbeit und die zentrale Bedeutung des Selbstmitgefühls.

Interview: Christiane Wolf | Fotos: Jonathan Foust

Liebe Tara, wie bist du vor mehr als 45 Jahren Meditationslehrerin geworden?

Ich war auf dem College, engagierte mich sozial und war auf dem Weg zum Jurastudium. Ich nahm an verschiedenen Kundgebungen und Versammlungen teil und mir fiel auf, dass alle sehr wütend waren und ihre Fäuste gegen „den Feind“ reckten. Unter der Woche ging ich zum Yogaunterricht und stellte fest, dass ich mich sehr friedlich und offen fühlte. Eines Abends ging ich nach der Yogastunde, die wir mit einer sehr langen und schönen Meditation beendet hatten, in einer sehr ruhigen Stimmung draußen spazieren, blieb unter einem Obstbaum stehen und roch seinen Duft und erkannte, dass mein Körper und mein Geist zur selben Zeit am selben Ort waren – es war ein ganz außerordentliches Gefühl des Friedens. Da wurde mir klar, dass wir die Welt nur verändern können, wenn wir von diesem Ort des offenen Herzens und des Friedens ausgehen und nicht von Hass und Wut. Das änderte meine Vorstellung, was ich tun wollte, und statt Jura zu studieren, vollzog ich eine dramatische Wendung, zog in einen Ashram, eine spirituelle Gemeinschaft, und begann, Yoga und Meditation zu praktizieren. Und wenn etwas für mich wirklich funktioniert – und das hat es –, dann lehre ich es. Nachdem ich also einige Jahre praktiziert hatte, begann ich zu unterrichten.

Was motiviert dich auf diesem Weg, dass du ihn nach so vielen Jahrzehnten immer noch lehrst und praktizierst?

Ich praktiziere weiterhin täglich, weil das bewusste Innehalten, das Schaffen eines Raums der Stille und der vertieften Aufmerksamkeit mein Herz und meinen Geist jeden Tag nährt. Es spielt keine Rolle, wie lange. Und ich trenne den Weg der inneren Freiheit nicht davon, wie wir in dieser Welt leben. Deshalb bilde ich jetzt andere Menschen zu Lehrern aus, weil ich das Gefühl habe, dass es anderen hilft, zu sich selbst zu kommen und dann aus ihrem besten Selbst heraus zu handeln. Wenn ich also über Akzeptanz, Vergebung und Liebe unterrichte, ist das nicht passiv, sondern eine Lehre, in die Gegenwart zu kommen, sodass wir dann aus dieser Gegenwart heraus handeln, aus unserer höchsten Intelligenz heraus leben und auf das Leiden in der Welt reagieren können. Ich habe den Eindruck, dass das Erwachen des Bewusstseins der einzige Weg ist, um Heilung zu bewirken.

In deinen Büchern und Vorträgen sprichst du davon, wie wichtig es ist, dass wir lernen, Selbstmitgefühl zu kultivieren. Warum ist das so wichtig?

Ich habe hier die Formulierung „uns selbst der beste Freund sein“ in „Selbstmitgefühl kultivieren“ geändert. Das ist deshalb so wichtig, weil eins unserer tiefsten Leiden darin besteht, dass wir unzulänglich sind, nicht genügen. Das nenne ich die Trance der Unwürdigkeit – es ist eine Trance, wie ein Traum, es ist nicht die Wahrheit. Unsere uns einschränkenden Gefühle und Überzeugungen rühren von Botschaften her, die wir von unseren Bezugspersonen und der Gesellschaft übernommen haben. Ein wichtiger Teil des spirituellen Weges besteht daher darin, uns selbst spirituell andere Eltern zu sein, zu lernen, innerlich eine achtsame und fürsorgliche Präsenz anzubieten, die unser Herz heilen kann.

Wie können wir das lernen?

Es ist ein richtiges Training, Selbstmitgefühl zu kultivieren. Es erfordert tägliche Übung. Wir müssen uns der Momente bewusst werden, in denen wir in der Selbstverurteilung gefangen sind. Viele Menschen haben mir gesagt, wenn sie zu sich selbst sagen können: „Oh, das ist die Trance der Unwürdigkeit!“, dann entsteht ein bisschen mehr Raum, ein bisschen mehr Bewusstsein, ein bisschen mehr Achtsamkeit. Und dann müssen wir ein paar Augenblicke innehalten, um zu erkennen, was da vor sich geht, um die Verletzlichkeit in unserem Körper bewusst zu spüren und uns die sehr wichtige Frage zu stellen: Was brauche ich jetzt? Wenn wir das spüren können und uns innerlich eine liebevolle Antwort geben, beginnt dies, Heilung zu bewirken. (…) Mehr

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie weiterlesen? Unsere Ausgabe „Vertrauen in das Leben und in mich selbst.“ können Sie bequem online bestellen.
 

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Dieser Artikel stammt aus unserer Herbst-Ausgabe 03/2022: Vertrauen in das Leben und in mich selbst.

„Es ist ein richtiges Training, Selbstmitgefühl zu kultivieren. Es erfordert tägliche Übung. Wir müssen uns der Momente bewusst werden, in denen wir in der Selbstverurteilung gefangen sind.“

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