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Porträtaufnahme der Psychoanalytikerin und Autorin Verena Kast zur Illustration der Leseprobe "Was uns wirklich trägt" über über die grundlegende Bedeutung von Vertrauen in Beziehung, Freundschaft und Gesellschaft

Verena Kast: Was uns wirklich trägt

Wir sprechen mit der Schweizer Psychoanalytikerin und Autorin Verena Kast über die grundlegende Bedeutung von Vertrauen in Beziehung, Freundschaft und Gesellschaft, über das Spannungsfeld von Zweifel, Misstrauen und Angst sowie darüber, warum es gerade jetzt so wichtig ist, sich um andere Menschen zu kümmern.

Interview: Stefanie Hammer | Foto: Palma Fiacco

Liebe Frau Kast, was genau ist Vertrauen aus psychologischer Sicht?

Vertrauen heißt, dass ich mich auf den anderen Menschen verlassen kann. Ich kann mir auch selbst vertrauen, ich kann Selbstvertrauen haben. Vertrauen erleichtert uns das Leben ungemein. Wenn wir nicht vertrauen, müssen wir alles kontrollieren und das macht das Leben wahnsinnig kompliziert. Außerdem kann man ja gar nicht alles kontrollieren. Insofern ist Vertrauen auch mit der Überzeugung verbunden, dass andere Menschen uns nicht prinzipiell schaden wollen. Wir bauen auf ihre Zuverlässigkeit und gehen zum Beispiel davon aus, dass ein Lokführer den Zug ganz normal nach Hause bringt. Ohne dieses „implizite Vertrauen“ könnten wir gar nicht sein.

Allerdings ist Vertrauen etwas außerordentlich Dynamisches. Wenn wir erleben, dass uns ein anderer Mensch schaden will oder unser Vertrauen missbraucht, dann werden wir vielleicht skeptisches Vertrauen oder skeptisches Misstrauen haben, oder wir werden einfach misstrauisch werden. Auch das kann manchmal angebracht sein, denn nicht immer ist es so, dass jeder uns nur Gutes will.

Und wie entsteht Vertrauen? Und wie wichtig ist es für unser Leben?

Schon ein Baby im Mutterleib muss irgendwie vertrauen, dass das Leben gut genug ist. Dann kommt das Vertrauen, das wir mit unseren Primärbeziehungen aufbauen, also mit Mutter, Vater, Großeltern, überhaupt dem ganzen „Mutterfeld“. Wenn ein Kind in etwa das bekommt, was es braucht, wenn es gesehen, gehört und berührt wird, entsteht in ihm ein Grundvertrauen: Ich kann der Welt vertrauen, ich kann in ihr eigentlich gut leben.

Dieses Grundvertrauen ist dynamisch, es kann sich auch wieder verändern. Es ist ganz normal, dass Eltern die Erwartungen eines Kindes zuweilen auch enttäuschen. Wenn das nicht allzu oft passiert, ist es weiter nicht schlimm. Das Kind lernt, mit Enttäuschungen umzugehen, und das ist wichtig, denn Vertrauen wird ab und zu enttäuscht. Wird jedoch das Vertrauen eines Kindes grundlegend enttäuscht, dann entsteht ein Grundmisstrauen, also das Gefühl, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und dass man sehr aufpassen muss, um zu dem zu kommen, was man braucht.

Wer sehr vertrauensvoll aufgewachsen ist, muss lernen, dass Vertrauen nicht immer gut ist. Und wenn man sehr misstrauisch aufgewachsen ist, wird man zum Beispiel durch die Beziehung zu Menschen, die einem sehr viel Vertrauen entgegenbringen, langsam lernen, dass man vielleicht etwas vertrauensvoller sein kann. Vertrauen kann also auch verändert werden.

Was zeichnet vertrauensvolle Beziehungen aus?

Das lässt sich am ehesten am Beispiel der Freundschaft sehen. Eine Freundschaft ist eine freiwillige vertrauensvolle Beziehung, denn Freunde sind ja nicht miteinander verwandt. In einer Freundschaft möchte man, dass es dem Freund oder der Freundin gutgeht. Zugleich ist es so, dass das Vertrauen erst wachsen muss. Im Laufe der Zeit merkt man, dass man sich aufeinander verlassen kann, und wird immer vertrauensvoller. Sollte dann irgendwann einmal ein Vertrauensbruch oder eine Missstimmung vorkommen, kann man darüber sprechen. Ganz grundsätzlich besteht zwischen Freunden eine freundliche Gesinnung und diese Haltung gibt beiden das Gefühl, hinreichend gute Menschen in einer hinreichend guten Welt zu sein. Man weiß, dass man einander vertrauen kann, und dies schafft Sicherheit. Je schwieriger die Welt wird, je mehr Angst in der Welt ist, umso wichtiger sind solche Vertrauensbeziehungen. (…) Mehr

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie weiterlesen? Unsere Ausgabe „Vertrauen in das Leben und in mich selbst.“ können Sie bequem online bestellen.
 

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Dieser Artikel stammt aus unserer Herbst-Ausgabe 03/2022: Vertrauen in das Leben und in mich selbst.

„Wenn ein Kind in etwa das bekommt, was es braucht, wenn es gesehen, gehört und berührt wird, entsteht in ihm ein Grundvertrauen: Ich kann der Welt vertrauen, ich kann in ihr eigentlich gut leben.“

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