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Private Aufnahme des Psychiaters und Neurologen Viktor E. Frankl in den späten 60er Jahren in New York. Bild dient zur Illustration der Leseprobe "Der Sinnstifter" über das Wirken Viktor Frankls, der die Sinnfrage ins Zentrum von Theorie und Praxis gerückt und Vertrauen zum großen Heilmittel seelischer Not erklärt hat.

Viktor E. Frankl: Der Sinnstifter

Er war KZ-Überlebender, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Gastprofessor in Harvard, 29-facher Ehrendoktor und seine Werke sind in über 50 Sprachen übersetzt worden: Viktor E. Frankl hat mit seiner Logotherapie und Existenzanalyse die Sinnfrage ins Zentrum von Theorie und Praxis gerückt, Vertrauen zum großen Heilmittel seelischer Not erklärt. An der Schnittstelle von Psychologie, Philosophie und Medizin entstand so die „dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“.

Text: Anna K. Flamm | Foto: privat / Brandstätter

Am 26. März 1905 wurde Viktor Emil in Wien geboren. Seine Mutter Elsa stammte aus einem alteingesessenen Prager Patriziergeschlecht, sein Vater Gabriel – Direktor im Ministerium für soziale Verwaltung – aus einer mittellosen Familie in Südmähren. Geprägt von der fürsorglichen, frommen Mutter und der spartanischen, pflichtbewussten Lebensauffassung seines religiös verwurzelten Vaters, in der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielte, entwickelte sich Viktor Frankl zu einem Perfektionisten, der sich zwischen extremer Rationalität auf der einen Seite und tiefer Emotionalität auf der anderen bewegte.

Bereits mit vier Jahren rüttelte ihn die Einsicht auf, eines Tages sterben zu müssen, und mit ihr die Frage: Macht die Vergänglichkeit des Lebens seinen Sinn zunichte? Viel später hat er folgende Antwort gegeben: „In mancherlei Hinsicht macht der Tod das Leben überhaupt erst sinnvoll. Vor allem aber kann die Vergänglichkeit des Daseins dessen Sinn aus dem einfachen Grunde nicht Abbruch tun, weil in der Vergangenheit nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen ist. (…) Was immer wir getan und geschaffen, was immer wir erlebt und erfahren haben – wir haben es ins Vergangensein hineingerettet, und nichts und niemand kann es jemals wieder aus der Welt schaffen.“ Auch der Erste Weltkrieg, in dem es der Familie Frankl so schlecht ging, dass die Kinder betteln mussten, änderte nichts am Gefühl der Geborgenheit, das Viktor empfand, und an seiner Überzeugung, dass es wichtig sei, immer wieder auch das Positive sehen und dankbar dafür zu sein, was einem in der Vergangenheit erspart geblieben sei.

Die Sinnfrage

Zwei Themen beschäftigten Viktor Frankl in seiner Gymnasialzeit besonders: die Naturphilosophen und angewandte Psychologie. So besuchte er verschiedene Volkshochschulkurse und begann schließlich, regelmäßig mit Sigmund Freud zu korrespondieren, der prompt eines seiner Manuskripte in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlichen ließ. Sein starkes Gefühl für soziale Gerechtigkeit sorgte zudem dafür, dass Frankl Funktionär in der sozialistischen Arbeiterjugend wurde. In seinem ersten öffentlichen Vortrag, Über den Sinn des Lebens, den er mit 15 Jahren hielt, fasste er zwei Grundgedanken, die prägend für sein Denken bleiben sollten, zusammen: „Dass wir nach dem Sinn des Lebens eigentlich nicht fragen dürften, da wir selbst es sind, die da befragt werden: Wir sind es, die zu antworten haben auf die Fragen, die uns das Leben stellt. Und diese Lebensfragen können wir nur beantworten, indem wir unser Dasein selbst verantworten.“

Der Psychiater

Fasziniert von der Betonung der Gemeinschaft und sozialer Reformen in Alfred Adlers individualpsychologischer Bewegung, nahm Viktor Frankl während seines Medizinstudiums an der Universität Wien als jüngstes Mitglied an Treffen des Adler-Kreises teil. Dabei beschäftigte ihn weiterhin das Grenzgebiet zwischen Psychotherapie und Philosophie, besonders die Frage nach dem Sinn und den Werten.

Es folgten Vorträge auf verschiedenen Kongressen, in denen er zum ersten Mal die Idee seines sinnzentrierten Ansatzes für Psychotherapie unter dem Begriff Logotherapie vorstellte (logos = altgriechisch „Sinn“). Die Logotherapie, der er später den Namen Existenzanalyse hinzufügte, sieht den Menschen nicht nur von inneren und äußeren Bedingungen bestimmt, sondern frei, auf beide zu reagieren und sie auch teilweise zu gestalten. Dies zu tun, sei ein in uns angelegter Wille. Wenn er frustriert werde, könne das tiefgreifende Auswirkungen auf die seelische Gesundheit haben. Die Therapie ist darauf ausgerichtet, dass Menschen diese Selbstbestimmungsfähigkeit zurückerlangen. Wesentlich sei dabei, den Sinn in jedem Augenblick zu erkennen – etwas, was nur jeder für sich tun könne. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Herbst-Ausgabe 03/2022: Vertrauen in das Leben und in mich selbst.

„Ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person.“

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