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Der buddhistische Mönch und Lyriker Thich Nhat Hanh beim Lesen eines Buches

Thich Nhat Hanh: Nenne mich bei meinen wahren Namen

Der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh, neben dem Dalai Lama die weltweit renommierteste buddhistische Persönlichkeit der Gegenwart, ist im Januar 2022 im Alter von 95 Jahren in Vietnam verstorben. Als Poet hat der Mönch und Lehrer Gedichte voller Schönheit und Weisheit verfasst, in denen sich die Erfahrungen und Einsichten eines ungewöhnlichen Lebens spiegeln und eine tiefere Dimension des Daseins sichtbar werden lassen.

Text: Ursula Richard

Thich Nhat Hanh ist weltweit vor allem als buddhistischer Lehrer der Achtsamkeit bekannt geworden, als ein sehr sanfter, sehr leiser und mitfühlender Mönch, der nicht müde wurde, zu betonen, wie wichtig und transformierend es ist, Achtsamkeit nicht nur auf dem Meditationskissen, sondern im Alltag in allen Lebensbereichen – Familie, Arbeit, Beziehungen, der Politik – zu leben. Er vermochte es, auch komplexe buddhistische Lehren so zu vermitteln, dass sie von uns westlich sozialisierten Menschen verstanden und in den Alltag integriert werden konnten.

Seine Sprache war meist einfach, aber voller poetischer Bilder, oft der Natur entlehnt. Anhand eines im Herbst von einem Baum sich ablösenden Blattes, das zu Boden sinkt wie in einem Tanz und sich nicht vor der Auflösung fürchtet und davor, Teil des Erdreichs zu werden, illustrierte er sowohl die Kontinuität des Lebensprozesses als auch Intersein, wie er es nannte, unsere wechselseitige Verbundenheit mit allem, und dass wir uns nur deshalb vor dem Tod fürchten, weil wir uns, anders als das Blatt, falschen Ideen über unser getrenntes Selbst hingeben. Auch Welle und Wasser, Wolke und Regen waren häufig von ihm verwendete Bilder, um die Tiefendimension unserer Existenz zu verdeutlichen. Sein Tod wurde von seiner Gemeinschaft mit den Worten mitgeteilt: „Thay hat sich friedlich in eine Wolke verwandelt.“ In gewisser Weise vermenschlichte er Naturelemente, sodass es fast fühlbar wurde, welche Erleichterung eine Welle empfinden musste, wenn sie realisierte, dass sie nicht nur eine Welle, sondern auch Wasser war. Seine Bilder öffneten jenseits eines intellektuellen Verständnisses Räume der Intuition und Imagination.

Zeit seines Lebens ist Thay weit mehr als ein buddhistischer Lehrer. Er hat den Buddhismus in aller Tiefe studiert, ist aber auch mit westlicher Philosophie vertraut, ist ein Aktivist, der sich für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzt, in Vietnam einen engagierten Buddhismus mitbegründet und schon früh für einen anderen Umgang mit der Natur, mit den Tieren, mit Mutter Erde eintritt. – Und er ist ein Dichter und Kalligraf, wobei er immer wieder betont, dass Gedichte schreiben und Worte kalligrafieren für ihn keine wertvolleren Tätigkeiten seien als das Umgraben der Erde für ein neues Beet.

Die Einheit von Poesie und Spiritualität

Schon in seinen jungen Jahren als Mönch interessiert er sich für Literatur und Poesie und schreibt und veröffentlicht Gedichte. Ein befreundeter Dichter widmet ihm ein Gedicht mit den Worten: „Für Thich Nhat Hanh – eine Brücke des Verständnisses zwischen Spiritualität und Poesie.“ Thay selbst hält eine solche Brücke gar nicht für notwendig. Für ihn ist Poesie Spiritualität und Spiritualität Poesie. Die tiefe wechselseitige Verbundenheit zwischen Buddhismus und Poesie, ihr Intersein, beschreibt er in einem Gedicht mit den Worten: „Möge das strahlende Licht des goldenen Pfades – Quelle der Poesie – die Tiefen der dunkelsten Nacht erleuchten.“

Seine künstlerischen Interessen sind sehr weit gefächert. Mit Studierenden führt er anlässlich des Mondneujahrs 1950 eine Adaptation der Komödie Tartuffe von Molière auf. Später schreibt er über diese Zeit: „Ich war 24, voller kreativer Energie, ein Künstler und Dichter. Mehr als alles andere wollte ich dazu beitragen, den Buddhismus in meinem Land zu erneuern und ihn für die Bedürfnisse der jungen Menschen relevant zu machen.“ (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Sommer-Ausgabe 02/2022: Kreativität. Die schöpferische Kraft in uns selbst entdecken.

Thich Nhat Hanh: Nenne mich bei meinen wahren Namen – Ausgewählte Gedichte, Droemer Verlag 2010

Mein Leben ist meine Lehre, O.W. Barth 2017

Das Leben und Wirken Thich Nhat Hanhs, herausgegeben von der Plum Village Community of Engaged Buddhism

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