Moment by Moment

Eine Gruppe junger Menschen sitzt vor einer blauen Wand. Über ihnen hängt ein Rettungsring, zu dem sie aufschauen

Die innere WG

Die Achtsamkeitslehrerin und Sachbuchautorin Heike Mayer arbeitet als Therapeutin mit dem IFS-Modell: einem Ansatz zu innerem Wachstum an der Schnittstelle von Psychotherapie und spiritueller Transformation. Anhand dieser Methode, die unsere Psyche als eine Art innere Wohngemeinschaft auffasst, zeigt sie, wie spirituelle und psychologische Entwicklung Hand in Hand gehen.

Text: Heike Mayer

Waum passt das, was wir tun wollen, und das, was wir tatsächlich tun, manchmal nicht zusammen? Warum sagen wir Dinge, über die wir uns hinterher ärgern oder für die wir uns schämen? Warum stehen wir uns so oft selbst im Weg?

Vieles in unserem Verhalten scheint unlogisch – bis man eine neue Perspektive einnimmt, aus der all das Sinn ergibt. Dass wir Dinge fühlen, denken, wollen und tun können, die sich gegenseitig zu widersprechen scheinen, beruht darauf, dass die menschliche Psyche sehr unterschiedliche Aspekte in sich beherbergt, die gleichzeitig aktiv sein können. Wir sind keine einheitliche, mit sich selbst übereinstimmende Person. Der persische Dichter Rumi beschrieb im 13. Jahrhundert den Menschen als ein Gasthaus, in dem sich die unterschiedlichsten Besucher die Klinke in die Hand geben. Wir drücken es umgangssprachlich ja oft genug aus: „Ein Teil von mir würde schon gern jeden Morgen meditieren, aber ein anderer Teil will lieber im Bett liegen bleiben.“ Ich sage dazu: Jeder von uns trägt eigentlich eine ganze WG in seinem Innern.

Das IFS-Modell: Internal Family Systems

Internal Family Systems, auch Systemische Therapie mit der inneren Familie genannt, ist in meinen Augen einer der innovativsten und wirkungsvollsten Ansätze für innere Entwicklung weltweit. Das vom Psychologen Richard Schwartz aufgestellte Modell geht davon aus, dass jeder Mensch aus einem System von Persönlichkeitsanteilen besteht, die ähnlich komplex miteinander interagieren wie die Mitglieder einer Familie, einer WG oder eines Clans. Man kann sie sich vorstellen wie eigenständige Wesen mit einer eigenen Persönlichkeit. Sie unterscheiden sich in ihrer emotionalen Reife, ihren Gefühlen, ihrer Weise, die Welt zu sehen oder sich zu verhalten. So haben viele von uns z.B. einen inneren Anteil, dem Klimaschutz am Herzen liegt, aber auch einen, dem die eigene Bequemlichkeit wichtig ist, und die geraten aufgrund ihrer unterschiedlichen Prioritäten nicht selten in Konflikt.

Aus IFS-Sicht hat jeder unserer Anteile wertvolle Qualitäten und ist grundsätzlich darauf ausgelegt, einen positiven Beitrag für die Gesamtpersönlichkeit zu leisten. Allerdings können einige Teile aufgrund von schmerzlichen Erfahrungen in ungünstige Rollen geraten, die uns oder anderen schaden. Möchten wir daran etwas verändern, können wir das aus IFS-Sicht am besten tun, indem wir mit diesen Anteilen in wertschätzenden Kontakt treten.

Ein Weg zu tiefem inneren Kontakt

Die Erkenntnis, dass unerwünschtes Verhalten, schmerzliche Gefühle oder destruktive Muster von Teilen in mir ausgehen, aber nicht alles sind, was ich bin, kann enorm entlastend wirken. Eine ähnliche Erfahrung machen viele von uns in der Achtsamkeitspraxis: Ich habe Gedanken und Gedanken, aber ich bin nicht identisch damit. Noch spannender wird es, wenn wir entdecken, dass wir mit den Anteilen, von denen diese Gedanken und Gefühle ausgehen, in Kontakt treten können – und ihnen sogar helfen können, sich zu verändern. Das IFS-Modell eröffnet die Möglichkeit, einen echten Dialog zu beginnen. Denn wenn wir lernen, uns unseren Anteilen, auch den ungeliebten, mitfühlend zuzuwenden, werden wir entdecken, dass selbst diejenigen, die wir bislang lieber los wären, aus gutem Grund da sind.

So erging es auch meiner Klientin Katharina. Katharina leidet seit Jahren unter Antriebslosigkeit. Wann immer sie einen Impuls hat, etwas zu unternehmen oder zu erledigen, kommen Gedanken auf wie „Das wird eh nix“ oder „Hat ja doch keinen Sinn“. Diese Gedanken rauben ihr jeden Lebensmut. Sie ist wütend und verzweifelt, weil sie nicht dagegen ankommt, obwohl sie schon so vieles versucht hat: Selbstdisziplin, sich zusammenreißen, gegen die Gedanken ankämpfen, Selbstbewusstseinstraining, Meditation bis hin zu Antidepressiva.

Als sie beginnt, ihre Situation aus der „Teile-Perspektive“ zu betrachten, wird sie neugierig. Was könnte das für ein Anteil sein, der die Gedanken schickt, und warum wohl macht er das? Ich unterstütze sie dabei, ihn in sich aufzuspüren, mit unvoreingenommenem Interesse und der Annahme, dass es einen guten Grund geben könnte, warum solche Gedanken auftauchen. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Sommer-Ausgabe 02/2022: Kreativität. Die schöpferische Kraft in uns selbst entdecken.

„Das Verblüffende: Der Feind im eigenen Kopf kann sich als Beschützer herausstellen.“

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