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Aufnahme der Schwestern Christine und Margaret Wertheim zwischen ihren gehäkelten Korallenriffen

Christine und Margaret Wertheim: Häkeln für die Weltmeere

Die australischen Zwillingsschwestern Christine und Margaret Wertheim haben mit The Hyperbolic Crochet Coral Reef (Das hyperbolische Häkelkorallenriff) ein internationales Gemeinschaftsprojekt ins Leben gerufen, das auf das weltweite Korallensterben aufmerksam macht und zugleich das öffentliche Verständnis für die ästhetischen Dimensionen von Geometrie und Mathematik fördert. Mehr als 20.000 Menschen haben unter Anleitung der Schwestern zur Häkelnadel gegriffen und gigantische künstliche Korallenwelten erschaffen.

Text: Susanne Nadler | Fotos: Nikolay Kazakov

Begonnen hat alles im Jahr 2003, als Christine und Margaret Wertheim das Institute for Figuring gründeten, ein gemeinnütziges Projekt, das Themen aus Wissenschaft, Technik und Mathematik anschaulich einer breiten Öffentlichkeit näherbringt. Nicht mit abstrakten Formeln, sondern greif- und begreifbar. Dabei übernimmt Margaret, die Wissenschaftsjournalistin, den theoretischen Teil wie etwa die Vorträge, während Christine, die Künstlerin, für die praktische Umsetzung zuständig ist.

Zu Beginn war es mathematisches Origami, denn mit der japanischen Papierfaltkunst lassen sich geometrische Thesen anschaulich beweisen, die ansonsten nur in komplexen Gleichungen darstellbar sind. In dem Zusammenhang lernten die Schwestern Dr. Daina Taimina kennen, eine US-amerikanische Professorin für Geometrie, der es 1997 gelungen war, hyperbolische Formen, die vorher rein abstrakt und theoretisch schienen, durch Häkeln darzustellen. So begannen auch Christine und Margaret zu häkeln und stellten verblüfft fest, dass die so entstandenen Strukturen auffällig den Korallen glichen, die sie aus ihrer australischen Heimat in Queensland kannten, wo sich mit dem Great Barrier Reef das größte Korallenriff der Erde befindet.

Solche Riffe bestehen aus Abermilliarden winziger Organismen, die zusammen gewaltige Strukturen schaffen, komplexe Lebensge- Das kooperative Installationswerk ist in Farbe und Form vom Great Barrier Reef inspiriert meinschaften, die äußerst empfindlich auf Umweltveränderungen wie den Klimawandel und die daraus folgende Übersäuerung der Meere reagieren.

„Als wir 2005 mit dem Projekt begannen“, sagt Margaret Wertheim, „hatten die Wissenschaftler gerade erst angefangen, zu verstehen, dass das Korallensterben durch die globale Erwärmung verursacht wird, weil auch die Temperatur im Meer anstieg. Das zeigte, dass es nicht irgendwas in der Zukunft war, wie die Leute damals dachten, sondern bereits hier und jetzt stattfand.“ Seit den 1950er-Jahren ist das in großem Umfang geschehen, sodass heute weltweit nur noch 63 Prozent der Korallenriffe intakt sind. Vor allem am Great Barrier Reef schreitet die Zerstörung erschreckend schnell voran.

Von der Häkelkoralle zum Korallenriff

Um auf das Korallensterben aufmerksam zu machen, haben die Wertheim-Schwestern bereits vor 17 Jahren in Australien begonnen, interessierte Häkelkundige und Laien über soziale Medien und die Presse zur Beteiligung an ihrem Projekt aufzurufen. Die Resonanz war unglaublich, erinnert sich Margaret: „Bisher sind über 40.000 gehäkelte Korallenteilchen bei uns eingetroffen, weil wir es durch internationale Vernetzung geschafft haben, dass man sich dazu in fast jedem Land Häkelanleitungen aus dem Internet herunterladen konnte.“ Mittlerweile sind so unter der Regie der Schwestern unzählige sogenannte Satellitenriffe entstanden, die in regionalen Ausstellungen auf die Gefährdung eines der komplexesten und schönsten Naturphänomene unter Wasser aufmerksam machen.

Das Ganze war ein enormes soziales Unterfangen, an dem Menschen aus der ganzen Welt mitgewirkt haben: „Wir wissen jetzt, dass mehr als 20.000 Menschen mitgemacht und Korallen und ganze Rifflandschaften gehäkelt haben. Darunter sind Menschen aus allen sozialen Schichten, Hausfrauen, Informatikerinnen, Gefängnisinsassen und Künstlerinnen – Männer bilden allerdings nur einen verschwindend geringen Anteil. Wir sind dankbar für all das, was bisher passiert ist: Wir haben das Projekt in 50 verschiedenen Städten und zahlreichen Ländern in aller Welt durchgeführt. Melbourne, London, New York, Chicago, Abu Dhabi, Deutschland, Irland und Japan, um nur einige zu nennen.“ Das Werk der Wertheims ist also ein Gemeinschaftsprojekt zahlloser Künstlerinnen. Sie selbst aber bleiben Ideengeberinnen, Kuratorinnen und Arrangeurinnen, die das Wachstum der wolligen Riffe nicht zuletzt in zahllosen Videokonferenzen dirigiert haben.

Ihr schon 2019 auf der Biennale in Venedig ausgestelltes Crochet Coral Reef ist jetzt in veränderter und vergrößerter Form in einer alle Räume umfassenden Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden zu sehen. Christine Wertheim nennt es „die Sixtinische Kapelle der Häkelkorallenriffe“. (…) Mehr

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