Moment by Moment

Naturkünstler Andy Goldsworthy steht vor einem Teich. Vor seinem Gesicht ist eine Wolke aus gelben Blüten.

Andy Goldsworthy: Meister der Naturkunst

Es gibt kaum einen anderen Künstler, der Menschen mehr zur Nachahmung seiner unnachahmlichen Werke inspiriert: Steintürmchen am Strand, die durch die nächste Flut zerstört werden, oder sorgsam arrangierte herbstliche Blätter, die der nächste Windstoß hinwegfegt – stille Zeugen der Schönheit des Vergänglichen, eingebettet in das Werden und Vergehen in der Natur. Wir folgen den Spuren von Andy Goldsworthy, der viele seiner Werke als Momentaufnahmen auf Film und Fotos gebannt hat.

Text: Norbert Classen

Geboren am 26. Juli 1956 in der britischen Grafschaft Cheshire, wuchs Andy Goldsworthy in West Yorkshire auf und begann im Alter von 13 Jahren im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern zu helfen, wenn er nicht gerade in der Schule war. Die Arbeit in und mit der Natur prägte schon früh sein Bewusstsein für den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, Saat und Ernte, den Wechsel der Jahreszeiten und schärfte seinen untrüglichen Sinn dafür, flüchtige Phänomene innerhalb seiner Umgebung wahrzunehmen. Auch heute noch vergleicht er die repetitive Arbeit auf dem Bauernhof gern mit der rhythmischen Routine seines künstlerischen Schaffens, das ihn vollkommen absorbiert.

Als Bildhauer sind die Hände sein wichtigste Werkzeug: „Die Beziehung zwischen Hand und Gehirn ist von zentraler Bedeutung“, sagt Goldsworthy und erinnert an den Mathematiker und Biologen Jacob Bronowski, der die Hand treffend als Schnittkante des Gehirns bezeichnet hat. „Genau das ist sie“, betont der Künstler. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen bloßem Anschauen und Berühren. Berührung nährt dich. Sie bringt dich über das bloße Schauen hinaus. Schauen ist wichtig, aber der Kontakt, die physische Reibung zwischen Hand und Material provoziert und erzeugt Empfindungen, Gefühle und Ideen, die wirklich wichtig sind, damit der Verstand in Bewegung kommt und bleibt.“

Schon während seines Studiums der Bildenden Kunst in den Jahren 1974 bis 1978 an der University of Central Lancashire zog es Goldsworthy aus dem „Gefängnis“ seines Ateliers hinaus in die Natur, um dort draußen Kunst zu schaffen, die eingebettet in die Umgebung und – für einen Moment – eins mit ihr ist, wie seine frühesten Werke: Türme, die aus übereinandergeschichteten Steinen am Strand der Morecambe Bay in der Nähe der Schule entstanden, um bereits von der nächsten Flut zerstört zu werden. Die einzigen Zeugnisse nicht nur dieser Arbeit sind Fotos, Momentaufnahmen von atemberaubender Schönheit, die sein Werk so ungewöhnlich machen.

Seine eigentlichen Werke existieren nur vorübergehend im Zusammenhang der Natur, die zugleich Studio und Leinwand ist – vergänglich, schön und mahnend, um an die Fragilität der natürlichen Umwelt zu erinnern. Schon während seiner Studienzeit orientierte sich der engagierte Umweltschützer an den ökologischen Ideen britischer Künstlerkollegen wie Hamish Fulton oder Richard Long. Etwas, das sich auch auf die Auswahl ausschließlich natürlicher und meist vor Ort gefundener Materialien bezieht, mit denen er seine Werke schafft: Steine, Felsen, Äste, Blätter, Eis oder Schnee. Auch Wind, Licht und Schatten spielen eine bedeutende Rolle: „Bewegung, Wandel, Licht, Wachstum und Verfall sind das Lebenselixier der Natur, die Energien, die ich mit meiner Arbeit zu erschließen versuche“, so Goldsworthy.

Die Hügel von Galloway

In den 1980er-Jahren schloss sich Goldsworthy gemeinsam mit den befreundeten Naturkünstlern Richard Long und Chris Drury der Environmental-Art-Bewegung an und zog nach Schottland, wohin ihn eine unbestimmte Ahnung und auch wirtschaftliche Gründe zogen. Es war einfach günstiger, in den sanften Hügeln von Dumfries und Galloway zu leben, und zugleich faszinierte ihn die offene Landschaft, in der er noch heute viele seiner Kunstwerke kreiert.

Dabei ist Andy Goldsworthy alles andere als ein Idealist, der die Natur blind verherrlicht. „Ich empfinde einige meiner Arbeiten als beunruhigend, genauso wie ich die Natur als Ganzes als beunruhigend empfinde“, sagt er offen. „Die natürliche Umgebung wird oft als idyllisch, hübsch oder schön wahrgenommen – etwas, das man als Wochenendkulisse genießen kann, bevor man wieder in den Stadtalltag zurückkehrt. Aber jeder, der auf dem Land lebt und arbeitet, weiß, dass es nicht so ist. Die Natur kann rau sein – schwierig und brutal, aber auch wunderschön. Du kannst keine fünf Minuten weit gehen, ohne auf etwas zu stoßen, was tot ist oder verrottet.“ (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Sommer-Ausgabe 02/2022: Kreativität. Die schöpferische Kraft in uns selbst entdecken.

„Bewegung, Wandel, Licht, Wachstum und Verfall sind das Lebenselixier der Natur, die Energien, die ich mit meiner Arbeit zu erschließen versuche.“

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