Im Mai 2023 geht eine mutige Nachricht durch die sozialen Medien: Ein Start-up-Unternehmer trennt sich von über vier Millionen Euro – fast seinem gesamten Vermögen – und wird zum Gesicht einer neuen, unbequemen Kapitalismuskritik. Die Welle der Interviews und Debatten lässt nicht lange auf sich warten: Ist das echtes Engagement oder nur ein PR-Manöver? Doch Sebastian Kleins Entscheidung entspringt keiner kalkulierten Selbstdarstellung, sondern einer tiefen persönlichen Suche nach Verantwortung, Sinn und einem anderen Umgang mit Reichtum.
Text: Roman Katzer
Was ist ein Leben wert, wenn es nur auf Gewinn ausgerichtet ist? Sebastian Klein hatte erreicht, wovon viele träumen: ein Start-up-Erfolg, ein Millionen- Exit, die Aussicht auf ein sorgloses Leben. Doch statt sich zurückzulehnen, begann er zu zweifeln. Immer lauter stellte sich eine unbequeme Frage: Kann man Teil eines Systems sein, hinter dem mal selbst nicht wirklich steht? „Reichtum ist keine Privatsache“, sagt er. „Er ist politisch. Und darüber müssen wir sprechen.“
Klein entschied sich für einen radikalen Schritt: Er gab 90 Prozent seines Vermögens ab und wurde zu einer der lautesten Stimmen unter den Kapitalismuskritikern der Unternehmerwelt. Nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung – und als Ergebnis eines langen Weges, einer Reise vom äußeren Erfolg zur inneren Verantwortung.
Vom Unternehmensberater zum Millionär
Sebastian Klein wächst in Kaufbeuren im Allgäu auf, studiert Psychologie in Marburg und gründet mit Kommilitonen eine studentische Unternehmensberatung. Schon früh interessiert er sich für Fragen der Organisationskultur und dafür, wie Arbeit sinnstiftend gestaltet werden kann. Doch in der Praxis merkt er schnell: Viele Unternehmen reden über Wandel, ohne ihn wirklich zu leben.
Im Jahr 2012 gründet er gemeinsam mit drei Freunden – Holger Seim, Niklas Jansen und Tobias Balling – das Start-up Blinkist. Die Idee: Sachbücher auf ihre Kernaussagen komprimieren und so Wissen in 15-minütigen Textoder Audioformaten zugänglich machen – für Menschen, die viel unterwegs sind, wenig Zeit haben, aber dennoch Neues lernen wollen. Der Nerv der Zeit ist getroffen: Die App wird millionenfach heruntergeladen, gewinnt Preise und wächst rasant.
Als Mitgründer prägt Klein bei Blinkist nicht nur die strategische Ausrichtung, sondern ist auch für die Unternehmenskultur verantwortlich. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Unternehmen von innen heraus menschenfreundlich, lernbereit und werteorientiert geführt werden kann. Doch je größer der Erfolg, desto häufiger stellt er sich die Frage: Was bedeutet es eigentlich, erfolgreich zu sein? Und was bleibt, wenn der Sinn dabei verloren geht?
Je tiefer er in die Szene der Gründer und Investoren eintaucht, desto fremder wird sie ihm. „Wenn man in solchen Runden über Werte gesprochen hat, war das eine Fremdsprache“, erinnert er sich. Die Gespräche kreisen meist um Exits und Renditen – nicht um Sinn, Verantwortung oder Wirkung.
Der Verkauf von Blinkist markiert den wirtschaftlichen Höhepunkt seiner Karriere: 2023 wird die App für eine hohe zweistellige Millionensumme an das australische Unternehmen Go 1 verkauft. Sebastian Klein wird damit über Nacht zum Multimillionär.
Der Moment der Erkenntnis
Doch genau dieser Moment wird für ihn zum Auslöser einer tiefen Auseinandersetzung – mit sich selbst und dem System, das ihn reich gemacht hat. Denn mit dem Geld kamen Fragen nach Gerechtigkeit und der Legitimation des Reichtums Einzelner.
Klein begann, sich intensiv mit den Mechanismen hinter der Vermögensbildung auseinanderzusetzen. Er erkannte: Wer Kapital besitzt, kann es mühelos vermehren – durch geschickte Anlage, Renditen, Steuervorteile. Gleichzeitig bleiben Millionen Menschen vom Wohlstand ausgeschlossen.
„Das System ist nicht auf Ausgleich ausgelegt“, sagt Klein. „Es zementiert Besitz und erschwert Teilhabe.“ Während Vermögende ihr Geld strategisch „wachsen“ lassen, kämpfen andere mit steigenden Lebenshaltungskosten und stagnierenden Löhnen. Was als Leistungsgesellschaft gilt, ist oft eine Vermögensvererbungsgesellschaft – mit ungleichen Chancen von Anfang an.
Doch Klein wollte nicht nur analysieren, sondern handeln. Er traf eine Entscheidung, die in der Wirtschaftswelt selten ist: Statt sein Vermögen zu sichern, gibt er den Großteil weiter – an Organisationen, die sich für soziale Gerechtigkeit und zukunftsfähige Wirtschaftsmodelle einsetzen.
Für Klein war der Ausstieg bei Blinkist auch eine persönliche Zäsur. „Ich dachte, ich brauche eine bestimmte Summe, um nicht mehr arbeiten zu müssen“, sagt er rückblickend. „Ich dachte vor allem, dass ich dann frei bin und nicht mehr über Geld nachdenken muss.“ Doch mit dem Geld kam nicht die ersehnte Leichtigkeit – sondern die Frage, was Freiheit wirklich bedeutet.
Das Leben nach dem Exit
Was passiert mit einem Menschen, der freiwillig auf Millionen verzichtet? Für Sebastian Klein ist klar: Verloren hat er nichts – im Gegenteil. „Ich habe alles, was ich brauche“, sagt er. „Der Verzicht war kein Opfer, sondern eine Entscheidung für mehr Klarheit.“
Heute lebt er mit seiner Partnerin und zwei kleinen Söhnen in einer gemieteten Zwei-Zimmer- Wohnung in Berlin. Kein Auto, kein Besitz im Übermaß. Stattdessen Zeit. Ruhe. Nähe. Statt Statussymbole zählen für ihn inzwischen Verbindung, Präsenz und Verantwortung. Für manche mag das nach Verzicht klingen – für ihn ist es ein Zugewinn an Lebensqualität. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele ihr Leben damit verbringen, immer mehr zu wollen – und dabei vergessen, dass ‚mehr‘ kein Selbstzweck ist.“ (…) Mehr
