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Moment by Moment

Im Gespräch mit Jack Kornfield

Wir sprechen mit dem international renommierten Meditationslehrer Jack Kornfield über die Kraft der Verbundenheit, die Stärke des Mitgefühls und die Freiheit, inmitten einer Welt voller Unsicherheit und Wandel Hoffnung zu bewahren. Kornfield zeigt uns, dass jede Krise auch eine Chance ist, uns an das zu erinnern, was uns wirklich ausmacht – unser mitfühlendes Herz und die Fähigkeit, selbst in schwierigen Zeiten ein Licht zu sein.

Interview: Hemma Rüggen | Foto: Mike Blabac

Wir leben in besonderen Zeiten. Inmitten all dessen, was gerade in deinem Land, aber auch auf der ganzen Welt passiert: Was gibt dir Kraft? Was inspiriert dich?

Die Realität ist, dass wir Überlebende sind. Wir haben harte Zeiten durchlebt, Generation für Generation und Jahrhundert für Jahrhundert. Wir wissen, wie man das macht, und in gewisser Weise sind wir dazu berufen, mit Schwierigkeiten umzugehen, ganz gleich, ob es Naturkatastrophen, der Klimawandel oder politische Umwälzungen sind. Wie können wir damit umgehen? Wie können wir in solchen Situationen navigieren? Wir haben wirklich keine Wahl. Wir könnten versuchen, uns zu verstecken, aber man kann sich nicht vor der Welt verstecken, weil man Teil von ihr ist.

Meine Tochter hat mal zu mir gesagt: „Dad, hast du jemals darüber nachgedacht, nach Neuseeland auszuwandern?“ Ich habe geantwortet: „Weißt du, wenn die Titanic untergeht, wäre ich gern an Deck und würde den Leuten in die Rettungsboote helfen, um so viele Leben wie möglich zu retten. Das ist doch viel interessanter, als wegzulaufen.“ Nicht dass ich glaube, dass die Titanic untergehen wird. Es könnte zu einer Kollision kommen, und es gibt einige sehr, sehr schmerzhafte Folgen unseres menschlichen Verhaltens, die weltweit zu beobachten sind. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte.

In der buddhistischen Lehre ist das Leiden die erste edle Wahrheit und dessen Ursachen die zweite: Gier, Hass und Unwissenheit. Je mehr Gier, Hass und Unwissenheit vorhanden sind, desto mehr leiden wir individuell oder kollektiv. Aber für jedes von ihnen gibt es ein Gegenteil. Das Gegenteil von Gier ist Großzügigkeit und Fürsorge, das Gegenteil von Hass Liebe, das Gegenteil von Unwissenheit Weisheit. Und schön ist, dass wir sie kultivieren können. Wir können sie entwickeln, wir können sie verkörpern. Wir alle wissen das und wenden uns jenen Idolen zu, die wirklich schwierige Zeiten durchlebt haben und da ganz verändert herausgekommen sind, wie Nelson Mandela, der nach 27 Jahren im Gefängnis von Robben Island mit einer solchen Großzügigkeit und Güte, einem solchen Geist herauskam, dass er nicht nur Südafrika veränderte, sondern auch die Vorstellungskraft der Welt. Wenn wir das sehen und hören, denken wir: O ja, vielleicht ist jeder von uns auf seine eigene, vielleicht viel kleinere Art und Weise dazu berufen.

Nelson Mandela hat einmal die folgende Begebenheit erzählt: „Nachdem ich südafrikanischer Präsident geworden war, bat ich einige Mitglieder meiner Leibwache, einen Spaziergang zu machen, und wir beschlossen, in einem Restaurant in der Innenstadt zu Mittag zu essen. Nachdem der Kellner unsere Bestellungen aufgenommen hatte, bemerkte ich, dass an einem Tisch in der Nähe ein einzelner Mann saß, der darauf wartete, bedient zu werden. Als sein Essen kam, bat ich einen meiner Leibwächter, den Mann zu uns zu bitten. Er stand auf, nahm seinen Teller und setzte sich an unseren Tisch und aß weiter. Seine Hände zitterten ständig. Er hob den Kopf nicht, und als er fertig war, winkte er mir zu, ohne mich anzusehen, und ging weg. Einer meiner Leibwächter sagte: ‚Madiba, dieser Mann muss sehr krank sein, denn seine Hände hörten nicht auf zu zittern, während er aß.‘ ‚Der Grund für sein Zittern ist ein anderer‘, antwortete ich. Sie sahen mich an, und ich sagte, dieser Mann sei einer der Wärter des Gefängnisses, in dem ich 27 Jahre lang eingesperrt gewesen war. Oft habe ich nach der Folter geschrien und um Wasser gebettelt, und er kam, um mich zu demütigen. Er lachte mich aus, und statt mir Wasser zu geben, urinierte er mir auf den Kopf. Er war nicht krank, sondern erschrocken – und er zitterte vielleicht aus Angst, dass ich, der jetzige Präsident Südafrikas, ihn ins Gefängnis stecken und das Gleiche mit ihm machen könnte. Aber so bin ich nicht, ein solches Verhalten gehört nicht zu meinem Charakter, nicht zu meiner Moral. Menschen, die auf Rache aus sind, zerstören Staaten, zerstören Menschen, während diejenigen, die auf Versöhnung aus sind, das Gute in dieser Welt aufbauen.“

Einige buddhistische Texte beginnen mit dem Satz: „O edel Geborener, vergiss nicht, wer du wirklich bist. Vergiss nicht das große Herz des Mitgefühls, die Augen, die klar sehen können, die Hände, die handeln und dienen können.“ Wir sind, wie Martin Luther King gesagt hat, „eingewoben in das gemeinsame Gewand des Schicksals“. Und Gandhi hat gesagt: „Wenn ich verzweifelt bin, erinnere ich mich daran, dass im Laufe der Geschichte immer wieder Tyrannen auftauchen und ihre Macht ausnutzen werden. Ich erinnere mich auch daran, dass sie am Ende fallen werden. Das tun sie immer. Vergessen Sie das nicht.“ Bei solchen Menschen, die uns inspirieren, geht es nicht nur darum, wie cool sie sind – sie zeigen uns einfach, dass dies möglich ist, egal wie schwierig es ist.

Was man selber tun kann, ist, einem hungrigen Menschen etwas zu essen zu geben oder einem Kind aufzuhelfen und es zu trösten, wenn es auf der Straße hinfällt. Das würde selbst der härteste Kriminelle tun, denn es ist in unsere DNA eingewoben. Und jetzt ist es an der Zeit, es zu fühlen und zu spüren und dich daran zu erinnern: Das ist, was zählt. Das ist, was ich bin. Und ich meine nicht, dass es heldenhaft sein muss, wie bei Nelson Mandela, sondern dass ihr dort, wo ihr seid, mit eueren Hände flickt, was zerbrochen ist, und ein Licht der Würde und Wahrheit ausstrahlt.

Ich möchte ein wenig auf deine Lebensgeschichte zu sprechen kommen. Welche Sehnsucht hat dich auf diesen Weg gebracht? Es war ja kein Zufall.

Es war das, was ein großer Lehrer den Anschein des Zufalls genannt hat. Wir denken, es wäre ein Zufall, aber es gibt etwas Größeres, das sich entfaltet, und das können wir oft spüren. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es viel Gewalt gab. Mein Vater hatte psychische Probleme. Er war ein brillanter Wissenschaftler, der einige der ersten künstlichen Herzen und Lungen entwickelt hat, aber er war auch ein wütender Tyrann, der meine Mutter schlug. Wir lebten in ständiger Angst vor seinen Ausbrüchen. Vor dem Medizinstudium besuchte ich einen Kurs in organischer Chemie, und es gab da diesen wunderbaren Professor aus Harvard, Dr. Wing-tsit Chan, der nach Dartmouth kam, wo ich studierte. Er saß manchmal auf dem Schreibtisch und sprach über Laotse und die chinesische Weisheitstradition. Und dann sprach er über Buddha und sagte: „Buddha lehrte, dass es Leiden gibt.“ Ich nickte. „Und er lehrte einen Weg zur Beendigung des Leidens.“ Ich beugte mich vor und fragte: „Welcher Weg ist das?“ Denn ich trug Angst und Schmerz in mir. Wir alle haben unsere tiefen Verletzungen, und ich erkannte, dass dies die Medizin war, die ich brauchte. Also begann ich, viel mehr zu studieren, und schließlich trat ich nach Abschluss meines Studiums dem US-amerikanischen Friedenskorps bei. Es sollte mich in ein buddhistisches Land schicken, damit ich einen Lehrer finden und vielleicht Mönch werden konnte.

Für viele von uns, nicht für alle, ist Leiden der Anfang, und wir wollen wissen, wie wir damit umgehen können. Was können wir tun? Es ist wichtig, zu verstehen, dass das Leiden am Ende der Geschichte steht, individuell wie global. Wir befinden uns mitten in dem, was Joanna Macy „die große Wende“ nennt, was bedeutet, dass wir global spüren können, dass wir uns von dem kapitalistischen Ausbeutungsmodell – lasst uns mit allen Mitteln so viel Reichtum wie möglich erlangen – zu einem Modell der gegenseitigen Abhängigkeit bewegen müssen, denn in Wahrheit sind wir voneinander abhängig, und auf diese Weise werden wir nicht nur überleben, sondern auch gedeihen.

Zeiten wie diese verlangen Zivilcourage von dir. Sie verlangen, dass du deine Augen und dein Herz offen hältst. Das ist nicht einfach, aber die Dinge sind nicht einfach. Wir sind nicht hier, um eine Aufgabenliste abzuhaken. Wir sind Teil eines viel größeren Geheimnisses. Und dieses Geheimnis lädt uns ein, einen Schritt zurückzutreten und uns daran zu erinnern, wer wir wirklich sind, nämlich Bewusstsein oder Liebe – es gibt viele Wörter dafür. (…) Mehr

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