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Im Gespräch mit Yongey Mingyur Rinpoche

Yongey Mingyur Rinpoche ist tibetischer Meditationsmeister, Autor und spiritueller Leiter des Tergar-Instituts. Im Gespräch zeigt er uns, dass die tiefste Liebe in uns selbst ruht – still und unerschütterlich. Wenn wir sie erkennen, verwandelt sie Anhaftung und Selbstbezogenheit in Weisheit und Mitgefühl, und unser Blick auf die Welt verändert sich.

Interview: Stefanie Hammer | Foto: Pema Oser Dorje

Was bedeutet Liebe aus buddhistischer Sicht?

Aus buddhistischer Sicht gibt es eine Sehnsucht auf einer tieferen Ebene, ähnlich wie die Sehnsucht nach Glück, Tugenden, Sinn. Es ist ein Gefühl, dass man sich auf etwas verlassen will oder es eine Quelle der Zuflucht und des Schutzes gibt. Natürlich gibt es auch ein Streben nach Glück und nach einem Sinn im Leben – all das zusammen.

Ist Liebe eher ein Gefühl, eine Emotion oder eine Geisteshaltung?

Es ist natürlich ein Gefühl – es ist eine Absicht, eine Motivation, ein Gefühl, eine Emotion und eine Haltung.

Wir verwechseln Liebe oft mit Anhaftung oder Besitzstreben. Wie können wir unterscheiden, ob wir wirklich lieben oder nur an etwas festhalten?

In der buddhistischen Sicht, glauben wir, dass jeder Mensch Liebe in sich trägt, und zwar rund um die Uhr. Aber was ist diese Liebe? Warum suche ich zum Beispiel gerade jetzt, während ich spreche, Glück? Und warum suchen einige der Leser und Leserinnen eurer Zeitschrift Glück? Während du diese Zeitschrift liest, blinzelst du. Mit jedem Blinzeln suchst du Glück. Mit jeder Bewegung und jedem Atemzug suchst du Glück. Wenn dir kalt ist, nimmst du dir eine Decke. Selbst auf dieser unbewussten Ebene gibt es also Liebe. Das Problem ist, dass wir sie nicht erkennen, weil unsere Unwissenheit sie verdeckt.

Im Buddhismus verstehen wir unter Unwissenheit so etwas wie Täuschung, falsche Überzeugungen, den Glauben an etwas Dauerhaftes, Unabhängiges und Einzigartiges. Einzigartigkeit bedeutet, dass ich die Nummer eins sein muss. Beständigkeit bedeutet, dass ich mich nicht verändern will. Unabhängigkeit bedeutet, dass ich die Kontrolle behalten will. Wenn man diese drei Vorstellungen zusammennimmt, wird das Gefühl, glücklich sein zu wollen – ein anderes Wort für Liebe –, von dieser Unwissenheit verdeckt und verwandelt sich in Verlangen und Anhaftung. Der Wunsch, sich vom Leiden zu befreien, verwandelt sich ohne Mitgefühl in das Gegenteil von Liebe – in Abneigung. So ist es auch manchmal bei der alltäglichen Liebe: Du liebst jemanden, willst aber etwas für dich haben. Das ist keine echte Liebe.

Und dann beginnt das Leiden.

Ab einem bestimmten Punkt wird das Leiden immer größer. Wir machen aus einer Mücke einen Elefanten. Eine Mücke ist sehr klein, aber wenn man mit den Augen zu nah herangeht, sieht sie riesig aus. Der Geist wird sehr empfindlich. Er oder sie muss für mich da sein, mich verstehen, mich unterstützen! Das basiert auf selbstsüchtigen Gründen. Natürlich gibt es auch etwas Fürsorge. Es ist eine Mischung, da gibt es echte Liebe, aber auch viel Selbstsucht. Was springt dabei für mich heraus? Dann folgt der Wunsch, den anderen zu kontrollieren. Und das muss immer so bleiben. So wird es zur Falle, wie ein Spinnennetz, das uns gefangen hält.

Wenn man in dem Spinnennetz gefangen ist, und sich dessen bewusst ist, welche Möglichkeiten gibt es, sich daraus zu lösen?

Das Wichtigste ist zunächst, sich mit der tieferen Liebe zu verbinden. Du kannst dich fragen: Was will ich wirklich? Oberflächlich gesehen ist das manchmal die grobe Ebene der Liebe, die ein bisschen echt und zugleich unecht ist. Wenn wir tiefer schauen, ist da der Wunsch, sich ganz zu fühlen und Sicherheit oder Glück zu empfinden. Es geht um Sinn. Wenn du das fühlst, braucht es, dass du das, was wir Liebe nennen, mit Weisheit verbindest, das heißt, die Vergänglichkeit akzeptierst. Alles hat seine Höhen und Tiefen, auch Beziehungen. Das ist sehr wichtig. Dann wirst du offener, aufgeschlossener, widerstandsfähiger. Dann wird die Liebe langsam echter und stärker. Und du bleibst nicht im Spinnennetz hängen, weil du jetzt mehr zu dem wirst, was wir Nichtanhaftung nennen.

Selbstliebe und Liebe für andere – sind das zwei Seiten derselben Medaille? Oder siehst du hier Unterschiede, oder würdest du einem von beiden den Vorrang geben?

Es ist ein bisschen wie die beiden Seiten einer Medaille. Aber wir alle haben Liebe und Mitgefühl, 24 Stunden am Tag. Es gibt also Selbstliebe und es gibt auch Liebe für andere. Aber wir erkennen sie nicht. Wir müssen uns damit verbinden. Wenn ich zum Beispiel diese Unterweisungen öffentlich gebe, sagen mir anschließend manche Leute: „Wow, deine Unterweisungen sind wunderbar. Du hast allen gesagt, dass sie Liebe und Mitgefühl ins sich tragen. Vielleicht trägst du die in dir, aber ich habe sie nicht. Ich hasse mich 24 Stunden am Tag.“ Dann frage ich zurück: „Warum bist du hierhergekommen?“ Sie antworten: „Ich will von dir lernen.“ Dann frage ich sie: „Warum willst du von mir lernen?“ Sie sagen: „Ich möchte diesen Selbsthass loswerden.“ Und ich antworte: „Siehst du, hier ist viel Selbstliebe. Du hast dir Zeit genommen, bist den ganzen Weg hierhergeflogen, hast viel Geld ausgegeben, um dieses Leiden loszuwerden. Du trägst also viel Liebe und Mitgefühl in dir. Aber du erkennst sie nicht.“ Und die meisten von ihnen sagen dann: „Ja, das stimmt.“

Wir leben in herausfordernden Zeiten. Was fehlt uns am meisten, sowohl in unserem persönlichen Umfeld als auch in der globalen Gemeinschaft, damit wir friedlicher und erfüllter leben können?

Ich behaupte, dass wir zehn Eigenschaften haben, eine negative und neun positive. Normalerweise sehen wir nur die eine negative und ignorieren die neun positiven. Nicht nur das, wir bauschen die eine negative Eigenschaft auch noch auf. Wenn also jeder jeden kritisiert und versucht, die Welt zu verändern, dann gerät sie ins Chaos. Aber wenn jeder versucht, das angeborene Gute in sich und den anderen zu erkennen, gibt es keinen Grund für Kriege und Konflikte.

Ich bin Leiter von Tergar International, drei Klöstern und vielen sozialen Projekten im Himalaja. In 99 Prozent der Fälle habe ich keine Probleme mit den Menschen, weil ich diese grundlegende angeborene Güte in ihnen sehe. Ich kommuniziere mit ihnen aus dieser Perspektive. Selbst wenn sehr negativ eingestellte Menschen reden, entdeckst du, wenn du ihnen zuhörst und versuchst, das Gute in ihnen zu sehen, dass sie sich zwar über vieles beschweren, aber auch unter den 100 Klagen gibt es zehn positive Dinge. Dessen muss man sich gewahr sein. Dann wird das Positive bald leuchten, und wir müssen nicht mehr mit dem Negativen kämpfen. Das Negative verwandelt sich automatisch. (…) Mehr

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