Liebe ist mehr als ein Gefühl – sie ist Beziehung, Mittel zur Kommunikation und Urkraft des Seins. Gert Scobel führt uns durch die Geschichte und Gegenwart eines Phänomens, das in vielfältigen Erscheinungsformen unseren Körper, Geist und die Welt durchdringt. Zwischen Kultur, Neurowissenschaft und Spiritualität eröffnet sich ein weiter Raum für Verbindung, Wandel und eine neue Sicht auf das, was Liebe ist.
Text: Gert Scobel
Wie antworten Sie auf die Frage, ob Liebe – also das, was Sie jetzt gerade unter Liebe verstehen – immer schon so war wie heute, auch vor Jahrtausenden? Es wird Ihnen vermutlich nicht leichtfallen, diese für jedes Liebespaar seltsam anmutende Frage zu beantworten. Zunächst werden Sie nämlich klären müssen, was genau Liebe für Sie bedeutet. Ihre Antwort wird anschließend einer Diskussion mit anderen standhalten müssen, die das, was Liebe ist, anders sehen. Doch ernsthaft über Liebe sprechen oder ihr sogenanntes Wesen erfassen zu wollen, setzt voraus, wenigstens einigermaßen klar sagen zu können, was – zunächst nur für Sie, dann später auch in der Diskussion für andere – Liebe ist. Wir alle haben das Gefühl, irgendwie zu wissen, was wir damit meinen, vor allem, wenn wir verliebt sind. Die Frage nach der Definition ist für Verliebte, die auf dem Weg zur Liebe sind, keine vernünftige Frage. Dennoch gewinnt sie an Zugkraft, wenn man sie auf Millionen Liebespaare und ihre Verschiedenheit ausdehnt. Zumal wir irgendwie zu wissen scheinen, dass mit alldem, was Liebe ausmacht, keineswegs nur etwas Anekdotisches oder rein Privates gemeint sein kann. Aber was? Gibt es einen Wesenskern, der in allen Erscheinungen der Liebe gleich ist? Schon mit Blick auf eine Salat-, Weg-, Ast- oder Mistgabel ist fraglich, ob es tatsächlich das allen gemeinsame „Gablige“ gibt, das – wo eigentlich? – steckt. Liebe ist eindeutig ein Gegenstand sinnlicher Erkenntnis – wie sonst könnten wir über sie reden? Und doch ist sie von ganz anderer Art als Kopfschmerzen, Gabeln, Platinringe oder selbst Elfen, die zwar auch irgendwie existieren, aber eben nur in Romanen, Märchen und Filmen. Liebe ist etwas anderes als ein Ding, das man immer weiter zerlegen und analysieren kann, bis man zu seinem „Kern“ vorgedrungen ist, den man am Ende vielleicht noch weiter spalten kann, bis einem alles um die Ohren fliegt.
Gefühl, Klima und Hormoncocktail
Ist Liebe also ein Gefühl? Wohl kaum, denn Gefühle sind wandelbar wie das Wetter. Im Vergleich wäre Liebe wohl eher Klima als Wetter: kein bloßes Gefühl, sondern eher ein sehr umfassendes und komplexes, einigermaßen stabiles Ereignis. Doch welcher Art? Ein Ereignis der Verzauberung oder mystischer Verzückung, in der alles – wie eigentlich? – verschwindet und – was eigentlich? – an seiner Stelle erscheint? Wenn die höchste Stufe des Liebesgefühls möglicherweise mit einem Zustand des Erlöschens einhergeht, verbunden mit einer gewissen körperlichen Ratlosigkeit, so scheint die Wurzel dieses heiklen Zustands, den manche für ein Hirngespinst halten, zugleich ursprünglicher und realer zu sein als jede Religion.
Wie man es auch dreht und wendet: Das Verhältnis von Liebe und Wirklichkeit erweist sich als in hohem Maße verzwickt. An den mehr oder minder verunglückten Definitionen der Liebe scheiden sich bis heute die Geister genauso wie an der Frage nach der Vergleichbarkeit von Liebe. Wer liebt wen mehr? Muss Liebe, um Liebe sein zu können, einer bestimmten Form entsprechen? Ist Liebe heute tatsächlich so wie die Liebe gestern?
Unsere persönlichen Meinungen über „die“ Liebe werden aufgrund der Erfahrungen, die wir mit ihr gemacht haben, zuweilen leidenschaftlich verteidigt. Dagegen wirken Argumente aus wissenschaftlicher Perspektive eher unterkühlt. Zu ihnen gehören beispielsweise die Erkenntnisse über die viel besprochene „Chemie der Liebe“ und ihren Zauberkasten der Hormone, von denen viele befürchten, sie würden alles, was mit Liebe zu tun hat, ganz und gar entzaubern. Zu Recht? Dieses Heft lotet das Thema ebenso aus wie die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zur „Sprache des Herzens“ stehen. Auch das Leben von Ram Dass oder der Aspekt der Selbst- Liebe werden thematisiert: denn wie könnte man andere lieben, wenn man sich selbst verachtet?
Aber es wäre seltsam, wenn moment by moment all diese Perspektiven zusammenbringen würde, ohne mit einem Weisen zu sprechen, einem „Mozart der Meditation“, der Liebe, Weisheit und Compassion zusammenbringt wie wenige andere: der tibetische Meditationsmeister Yongey Mingyur Rinpoche, der den Spagat zwischen Wissenschaft, kontemplativer Praxis und tätigem Handeln lebt.
Ein Medium der Kommunikation
Dennoch wäre es absurd, Liebe als ein Produkt hormoneller Grenzzustände zu deuten. Es wäre ähnlich falsch wie die Behauptung, Sprache entstünde allein in unserem Gehirn, das auf eine Weise, die wir bislang wissenschaftlich nicht verstanden haben, auch Gedanken generiert. Liebe geht wie Sprache dem individuellen Bewusstsein und damit auch jedem einzelnen Gehirn voraus. Wir alle werden als Säugetiere, die wir biologisch sind, in eine Gemeinschaft hineingeboren, die uns vorausgeht und bereits über Sprache verfügt. Sprache ist wie Liebe etwas, das zwischen Menschen existiert. Wie die Sprache „lebt“ sie weder allein in einzelnen Individuen noch in ihren Gehirnen – und findet sich sogar in Texten oder Gedichten, die zwar weder über ein Bewusstsein noch über ein Gehirn verfügen, aber dennoch Ausdruck von Liebe sein können. Liebe ist ein oszillierendes Zwischen-Sein und deshalb, wie der Systemtheoretiker und Soziologe Niklas Luhmann etwas nüchtern formuliert hat, vor allem ein höchst wirksames Medium der Kommunikation.
Das Problem ist, dass wir Medien selten wahrnehmen, obwohl das Medium die Botschaft prägt. Wir ähneln in dieser Hinsicht den Fischen, die still im Wasser schwimmen, oder den Vögeln, die gedankenverloren in der Luft ihre Flügel ausbreiten, weil sie wissen, dass das Medium sie trägt. Als Medium ist „die“ Liebe weder nur „hier“ noch nur „dort“, sondern dazwischen. In gewisser Weise gleicht sie einem verschränkten Quantenzustand oder dem, was Physiker ein Feld nennen. Wie eine Welle in der Quantenphysik muss sich auch in der Liebe „eine Welle“ „brechen“, damit sich das Energiefeld in vielfältigsten Formen und Gestalten materialisiert.
Genau diese Fähigkeit, wie aus dem Nichts da zu sein und zu etwas sehr Konkretem, Erfahrbarem zu werden, unterscheidet sie von bloßer Einbildung, die im Grunde Vorstellung und Gedankenakrobatik bleibt. Und doch ist sie nicht das alleinige Resultat atomarer Teilchen, sondern ein Geschehen, das das gesamte „Feld“ der Wirklichkeit erfasst. Liebe lässt sich weder auf die Biochemie des Körpers reduzieren noch auf soziale Faktoren oder gar auf eine Ökonomie oder Physik des Diamantrings, der in gewissen Situationen tatsächlich ein – messbares? – Symbol für sie werden kann. Liebe kann sich in einem Gegenstand ebenso wie in einer Umarmung oder einem Kuss materialisieren – aber weder der Ring noch die Umarmung, noch der Kuss sind für sich betrachtet Liebe. (…) Mehr