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Wegweiser-zum-Glück

Was ist Glück, Dr. Tobias Esch?

Nicht zu bekommen, was man will, ist manchmal ein großes Glück“ – sagt der Dalai Lama. Welche Erkenntnisse gibt es in Medizin und Glücksforschung dazu? Wir haben Mind-Body-Mediziner und Wissenschaftler Dr. Tobias Esch befragt.

Tobias Esch: „Die Frage nach dem Glück lässt sich in zwei Richtungen beantworten: im Sinne des spirituellen Wachstums und neurobiologisch. Neurobiologisch ist eine meiner zentralen Thesen, dass das Glück auf drei Arten daherkommt. Und dass es „reift“. Das eine ist das kurzfristige Glück: der Punkt, an dem wir plastisch, kreativ und innovativ sind, an dem wir lernen und wachsen und an dem wir Autonomie und Freiheit erlangen.

Die zweite Form des Glücks ist das Erleichterungsglück. Im Gegensatz zu der Situation, in der man etwas haben möchte oder wachsen will, ist es der Punkt, an dem man davongehen will: Wenn der Stress oder eine schwere Phase – Krankheit, Schmerz, Burnout – nachlässt. Oder wenn man nach einem schweren Arbeitstag die Tür hinter sich schließt, die Schuhe auszieht, möglicherweise erwartet wird und einfach abschalten kann.

Die dritte Form des Glücks ist die „Königsklasse“ – im Sinne eines Reifungsprozesses. Hier geht es um Zufriedenheit: Wenn man dort, wo man ist, genau richtig ist, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit. Man empfindet, dass man weder davongehen möchte noch Erleichterung braucht oder wachsen will. Was sich dann einstellt, ist das Gefuhl von innerem Frieden. Die Seele ruht.

Wachstum & Reife

Dieser Zustand darf jedoch nicht zu früh kommen, weil es, wie wir auch neurobiologisch aufzeigen können, eine innere Abfolge der verschiedenen Zustände gibt. Im Sinne der Spiritualität und des spirituellen Wachstums ist mit „Glück“ dieser dritte Zustand der Zufriedenheit gemeint und viele Texte spielen damit, dass das, was man in diesem Moment empfindet, der Zustand der spirituellen Reife ist. Den man sich erarbeiten und gewissermaßen verdienen muss. Man muss aus der Unbewusstheit des Kindes in die Bewusstheit des Erwachsenen kommen, der darin Zufriedenheit erlebt und spürt, dass es, ganz im Sinne einer Transzendenz, ein Loslösen von Körperlichkeit und Weltlichkeit ist.

Um an diesen Punkt zu kommen, ist ein Reifungsprozess auch im Gehirn notwendig – und wohl Zehntausende von Übungsstunden. Ungünstig wäre es in diesem Kontext, wenn dieser Zustand zufällig passierte und bestehen bliebe. In dem Moment gäbe es keinen Grund zum Wachstum und zum Reifen. Genau hier kommen wir zu dem Zitat des Dalai Lama.

Glück muss vergänglich sein

Jeder von uns kennt diese Momente, in denen man das Gefühl hat, vollkommen glücklich zu sein. Das Gefühl, dass es in diesem Moment nicht besser sein kann. Gleichzeitig gibt es in diesem Moment die kleine Ahnung, die kleine Melancholie, dass sich der Zustand nicht halten lässt. Dass er vergänglich ist und gehen wird. Und das muss genau so sein, denn sonst könnte man in dem Moment gleichsam „sterben“. Denn es gäbe nichts mehr zu tun, zu erledigen, zu denken, zu machen. Der Zustand muss vergänglich sein – und kommt erst später im Leben auf andere Art und Weise und in anderem Gewand wieder daher. Möglicherweise verweilt er dann auch. Aber bevor er in einem gelingenden Leben verweilen darf, muss er vergänglich bleiben.

Und als Antwort auf die Frage gilt: Ja, für uns Normalmenschen ist es gut, dass es manchmal ein
Glück ist, nicht alles zu bekommen, was wir uns wünschen. So kann die Sehnsucht nach diesem Ort, diesem Zustand, bleiben. Sie treibt uns an, den Weg, auf den wir uns aufgemacht haben, weiter zu bestreiten. Die große Kunst ist es, diesen Weg selbst irgendwann einmal als Glück zu empfinden.

 

Prof. Dr. med. Tobias Esch ist Allgemeinmediziner, Gesundheitsforscher und Neurowissenschaftler. Er war u.a. an der Harvard University und an der Berliner Charité wissenschaftlich tätig. Seit 2016 ist er Professor für Integrierte Gesundheitsversorgung/-förderung an der Universität Witten/Herdecke.

Sein Artikel zum Thema Glück erschien in der ersten Ausgabe von moment by moment (leider vergriffen). In der Winterausgabe 4/2020 finden Sie ein Interview mit Tobias Esch zum Thema „Krise als Motor der Transformation“.

1 Kommentar zu „Was ist Glück, Dr. Tobias Esch?“

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