Was, wenn unsere Entscheidungen längst gefallen sind, bevor wir sie bewusst zu treffen glauben? Neurowissenschaftliche Studien stellen den freien Willen infrage – und zeigen zugleich, welche Macht im bewussten Wahrnehmen liegt und wie es unser inneres Handeln verändern kann.
Text: Norbert Classen
Statistiken zufolge glauben fast 75 Prozent der Menschen in unserer modernen Zivilisation, dass jeder tun und sein kann, was immer er möchte – dass nichts vorbestimmt ist und wir stets bewusst selbst entscheiden können. Unser gesamtes Gesellschaftssystem basiert auf der Idee des freien Willens, der eine Grundvoraussetzung für unsere Demokratie und Rechtsprechung ist. Denn wären unsere Entscheidungen vorherbestimmt oder würden nicht frei von uns getroffen, gäbe es weder Wahlfreiheit noch moralische Verantwortung noch Schuld im Sinne der Justiz.
Dabei ist der Begriff „freier Wille“ weder wissenschaftlich noch rechtlich klar definiert. In einem fachübergreifenden Sinn versteht man darunter die subjektiv empfundene Fähigkeit, bei verschiedenen Wahlmöglichkeiten bewusst eine Entscheidung treffen zu können.
Die philosophische Perspektive
Seit dem griechischen Altertum haben Philosophen kontrovers über die Existenz des freien Willens diskutiert. Manche zweifelten daran, dass wir tatsächlich frei entscheiden können, und sahen den Menschen als von äußeren und inneren Ursachen gelenkt. „Der Mensch hält sich für frei“, schrieb Spinoza im 17. Jahrhundert, „weil er sich der Ursachen seiner Handlungen nicht bewusst ist.“ Und Arthur Schopenhauer folgerte: „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“
Andere, wie Immanuel Kant, vertraten eine ganz andere Position: Für ihn lag gerade in der bewussten Selbstbestimmung die Grundlage menschlicher Würde. „Freiheit“, so Kant, „ist die Unabhängigkeit von der Notwendigkeit der Natur, insofern der Wille sich selbst ein Gesetz geben kann.“ Auch William James, ein Wegbereiter der modernen Psychologie, war von der menschlichen Entscheidungsfreiheit überzeugt und notierte im Jahr 1870 trotzig in sein Tagebuch: „Mein erster Akt aus freiem Willen soll sein, an den freien Willen zu glauben.“ Für ihn war die Entscheidung, am freien Willen festzuhalten, selbst ein Ausdruck von Freiheit.
Zwischen diesen Polen bewegt sich die Diskussion bis heute: Ist unsere Entscheidungsfreiheit eine Illusion – oder können wir innerhalb gegebener Bedingungen bewusst wählen und Verantwortung übernehmen? Doch heute wird die Frage nach dem freien Willen nicht nur philosophisch, sondern auch empirisch neurowissenschaftlich untersucht – mit überraschenden Ergebnissen.
Das Libet-Experiment
In den 1980er-Jahren sorgte der Physiologe Benjamin Libet mit einem Experiment für Aufsehen, das die Vorstellung von einem bewussten, freien Willen grundlegend infrage stellte. In seinem Versuch hatte er Probanden gebeten, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt eine einfache Handbewegung auszuführen – etwa den Finger beugen – und den Moment anzugeben, in dem sie sich bewusst für diese Bewegung entschieden hatten. Währenddessen maß er die elektrische Aktivität im Gehirn.
Das überraschende Ergebnis: Bereits 350 Millisekunden, bevor die Versuchspersonen angaben, sich willentlich zur Bewegung entschlossen zu haben, zeigte sich ein sogenanntes Bereitschaftspotenzial im motorischen Kortex – ein neuronales Signal, das die bevorstehende Handlung vorbereitete.
Diese Beobachtung deutete darauf hin, dass der unbewusste Teil des Gehirns eine Handlung einzuleiten beginnt, bevor das bewusste Ich den Entschluss überhaupt fasst. Libet selbst sprach später davon, dass wir zwar möglicherweise nicht die volle Kontrolle über die Entstehung unserer Entscheidungen besitzen, aber ein „Vetorecht“: einen letzten bewussten Moment, in dem wir eine beginnende Handlung noch abbrechen könnten.
Die Ergebnisse wurden nicht ohne Widerspruch aufgenommen. Kritiker warfen ein, dass die subjektive Angabe des Entscheidungszeitpunkts ungenau sein könnte – und dass Libets Befunde möglicherweise nur für spontane motorische Handlungen gelten, nicht aber für komplexe, überlegte Entscheidungen. Trotzdem markierte Libets Experiment einen Wendepunkt: Erstmals war die uralte philosophische Frage nach der Willensfreiheit auf neurowissenschaftlicher Basis untersucht worden.
Matter over Mind?
Die Experimente von Libet bildeten nur den Auftakt zu einer intensiveren neurowissenschaftlichen Erforschung des freien Willens. Einer der Forscher, die diesen Ansatz ab Mitte der 2000er weiterverfolgten, war John-Dylan Haynes. Er untersuchte komplexere Entscheidungsprozesse und nutzte dazu funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), um die Gehirnaktivität sichtbar zu machen. Dabei ließ er seine Probanden zwischen zwei Optionen wählen – etwa, ob sie mit der linken oder rechten Hand eine Taste drücken wollten –, während ihr Gehirn gescannt wurde.
Dabei zeigte sich, dass bestimmte Muster neuronaler Aktivität im präfrontalen Kortex, der für das Planen und bewusste Entscheiden zuständig ist, und im parietalen Kortex, der unter anderem sensorische Informationen verarbeitet, bereits bis zu sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung auf die spätere Wahl hinwiesen. „Unser Gehirn trifft Entscheidungen, bevor uns diese bewusst werden“, so Haynes. Diese Erkenntnis erschütterte die Vorstellung, dass unser bewusstes Ich die alleinige Instanz der Entscheidungsfindung sei.
Die Resonanz auf Haynes’ Befunde war weitreichend: In der Wissenschaft lösten sie intensive Debatten darüber aus, inwieweit die Vorstellung einer menschlichen Autonomie überhaupt noch haltbar sei. Auch in den Medien wurde diskutiert, ob ethische Konzepte von Verantwortung und Schuld neu gedacht werden müssten. (…) Mehr
