Moment by Moment

Exklusiv-Interview mit Jon Kabat-Zinn

Interview: Stefanie Hammer| Foto: Chris Zvitkovits

Lieber Jon, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Deine Arbeit (Stressreduktion durch Achtsamkeit, MBSR) begann in den 1970er-Jahren mit chronisch kranken Menschen, die aus schulmedizinischer Sicht austherapiert waren, für die es also keine Therapieansätze mehr gab. Wie hängen für dich chronischer Schmerz, Achtsamkeit und Neubeginn zusammen? Was haben chronische Schmerzen, Achtsamkeit und Neubeginn für dich miteinander zu tun?

Tatsächlich ist jeder Moment in Achtsamkeit ein Neuanfang, eine neue Gelegenheit, zu erkennen, was sich äußerlich und innerlich entfaltet, und sich dem mit Unterscheidungsvermögen, Weisheit und Mitgefühl zu nähern, die alle drei mit der Kultivierung meditativer Praktiken im Laufe der Zeit reifen. MBSR ist ein Weg, Menschen in diese verborgene Dimension dem Körper innewohnender Möglichkeiten einzuführen und sie innerhalb von acht Wochen in eine hoffentlich lebenslange Achtsamkeitspraxis zu führen.

Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit, chronischer Schmerz oder der Verlust eines geliebten Menschen kann uns zunächst aus der Bahn werfen und maßlos überfordern. Auf solche Erfahrungen haben wir uns nicht vorbereitet und deshalb treffen sie uns umso härter. An welchem Punkt dieser Erfahrung können wir lernen, wieder Herr der Lage zu werden? Und was brauchen wir dafür, was kann uns dabei am besten unterstützen?

Ich glaube, es ist ein Fehler, zu meinen, wir sollten solche Kräfte „beherrschen“. Sich mit ihnen anzufreunden, könnte ein geschickterer Ansatz sein, also zu erkennen, dass das, was geschehen ist, bereits geschehen ist, und die wirkliche Herausforderung, wenn alles gesagt und getan ist und wir uns am meisten verletzt, verletzlich und ratlos fühlen, lautet: Was nun? Solange wir atmen und uns dessen bewusst sind, gibt es immer neue Optionen. Schließlich ist jedes Einatmen ein neuer Anfang in unserem Leben, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Diese Orientierung macht Verlust oder Leid nicht weniger bedeutsam oder überwältigend, aber sie bietet eine Reihe von Möglichkeiten, um früher oder später mit den Dingen, so wie sie sind, zurechtzukommen – mit anderen Worten, in einem gewissen Maß zu heilen – und diesen Prozess und das Lernen und Wachsen, das damit einhergeht, unser Leben formen und transformieren zu lassen, um den Anforderungen dieses neuen Moments, dieser neuen Situation gerecht zu werden. Das ist nicht einfach. Es ist so ziemlich die schwierigste Arbeit, die man machen kann. Aber welche anderen Möglichkeiten haben wir? Und wenn wir diese Ausrichtung und Praxis mit anderen teilen, kann das auch für die Welt als Ganzes heilsam sein.

Unsere üblichen Reaktionen auf etwas, das wir nicht in unserem Leben haben wollen, sind zunächst Widerstand, Ablehnung oder Ignoranz. Wir versuchen, uns auf unterschiedliche Weise abzulenken, in der Hoffnung, wir könnten der unerwünschten Situation so entkommen. Warum tun wir das und wie können wir besser damit umgehen?

Niemand möchte sich auf intensive Schmerzen konzentrieren, seien es nun körperliche oder emotionale. Aber wenn man solche Schmerzen hat und im Augenblick wenig dagegen tun kann, ist es möglicherweise sinnvoll, die Wirklichkeit dieser Erfahrung zu erforschen, auch wenn sie noch so unangenehm ist. Das kannst du Schritt für Schritt tun. Du musst nicht gleich ins kalte Wasser springen. In meinem neuen Buch Achtsam mit dem Schmerz geht es darum, wie man diesen Ansatz auf viele unterschiedliche Weisen praktisch kultivieren kann, indem man sich dem zuwendet, wovon man sich am liebsten abwenden möchte, und den Empfindungen, Gedanken und Gefühlen, die auftauchen, etwas länger Aufmerksamkeit schenkt, als man vielleicht möchte – einfach als Experiment, um zu sehen, ob man so nicht eine andere Dimension der Erfahrung und des Lernens entdeckt. Also indem man das, wovor man am liebsten davonlaufen oder was man am liebsten verleugnen möchte, zumindest für einen winzigen Moment, sagen wir ein Ein- oder Ausatmen lang, annimmt und sieht, was sich entfaltet.

Aus deiner Sicht ist ein gutes und erfülltes Leben auch mit einer Krankheit möglich?

Ja, das sollte es. Denn auf die eine oder andere Weise leiden wir alle bis zu einem gewissen Grad an „Unwohlsein“ – was der Buddha dukkha, Leiden, genannt hat –, und manchmal umfasst das unser ganzes Leben. Deshalb habe ich mein erstes Buch, in dem ich MBSR beschreibe, Full Catastrophe Living genannt (…)

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