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Speakerin Jamila Tressel bei einem Vortrag. Bild dient zur Illustration der Leseprobe "Was wir fürs Leben wirklich brauchen" über die Transformation des Bildungssystems und was geschehen muss, um Lernen von der Pflicht zum Abenteuer zu machen

Jamila Tressel: Was wir fürs Leben wirklich brauchen

Ihr erstes Buch, Wie wir Schule machen, veröffentlichte Jamila Tressel gemeinsam mit Mitschülern im Alter von 14 Jahren. Als Speakerin engagiert sich die 23-Jährige heute für eine neue, freie Art des Lernens sowie für einen gesellschaftlichen Wandel, weg vom Menschen als unmündigem Pflichterfüller hin zum mutigen, verantwortungsbewussten und selbst denkenden Individuum. Wir sprechen mit ihr über die Transformation des Bildungssystem und was geschehen muss, um Lernen von einer stupiden Pflicht zum Abenteuer zu machen.

Interview: Stefanie Hammer | Foto: privat

Was war für dich die größte Veränderung, als du in der fünften Klasse vom Gymnasium auf die Evangelische Schule im Zentrum (ESBZ) gewechselt bist?

Dass ich plötzlich nicht mehr als funktionierendes Maschinchen, das durchs System gepresst wird, wahrgenommen wurde, sondern als Jamila, als vollwertiger, eigenverantwortlicher Mensch, der seine eigenen Entscheidungen treffen darf, der für sich Verantwortung tragen darf, aber dafür auch die Unterstützung bekommt, die er braucht.

Was ist aus deiner Sicht die größte Stellschraube in der Transformation unseres Bildungssystems?

Der Haltungswandel von innen nach außen. Veränderung passiert von innen nach außen. Du kannst ein tolles Bildungssystem entwerfen, aber wenn sich die Menschen nicht verändern, wird sich auch im System nichts nachhaltig verändern. Das heißt, wenn Menschen wieder eine Verbindung zu sich selbst erlangen, also ein Gefühl für sich selbst, ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche und auch für ihre Stärke, dann wird man auch sagen können: „Wenn wir anfangen, nach den Impulsen zu leben, die wir empfangen, die goldrichtig sind – die wir aber zurzeit nicht mehr lernen zu hören –, dann wissen wir auch, wie wir miteinander umgehen und uns gegenseitig in der Bildung unterstützen können.“ Darauf aufbauend können wir gemeinsam eine Gesellschaft gestalten, die den Wünschen und Vorstellungen aller entspricht.

Das bedeutet also, die größte Stellschraube ist nicht bei der Politik, sondern bei dem Einzelnen, bei der Lehrerin, dem Schüler, den Eltern?

Das ist definitiv beides eine Riesenstellschraube. Wenn dich ein System so gefangen hält, dass du dich kaum bewegen kannst, dann gilt es, auch hier anzusetzen. Aber es gibt auch in Regelschulen tolle Einzelpersonen, die schon viel bewegt haben. Man sieht also: Auch wenn von oben nicht viel kommt, ist viel möglich.

Wie sieht der Schulalltag in der Regel aus, und worunter leiden die Schüler aus deiner Sicht am meisten?

Der Schulalltag in einer Regelschule ist zu 100 Prozent vorherbestimmt. Ich stelle das jetzt mal sehr drastisch dar, aber so habe ich es selber erlebt, und so nehme ich es auch bei vielen Schülern wahr. Da ist festgelegt, wann du was zu tun hast, wann du deinen Kopf auf Deutsch einstellen musst, nach 45 Minuten wieder umschalten musst auf Englisch, nach 45 Minuten umschalten musst auf Mathe, dann umschalten musst, dass du sportlich bist, also komplett durchgetaktet, oft mit sehr viel Stress und Druck verbunden, weil du kaum Zeit hast, dich auf die Themen wirklich einzulassen, sondern an der Oberfläche bleibst. Wenn du mal tiefer gehen willst, heißt es: „Nee, dafür haben wir keine Zeit, das kommt im nächsten Jahr dran.“ Oder: „Das müsstest du aber schon wissen.“ Also sehr wenig Flexibilität. Und worunter Schüler mit am meisten leiden – teilweise, ohne dass sie es merken –, ist eine extreme Fremdbestimmung. Das heißt, sie sind eigentlich nicht in der Lage, selbstbestimmt zu leben und sich Gedanken darüber zu machen: Was interessiert mich, was ist mir wichtig, was ist wichtig für mein Leben, welche Power hab ich, wo lass ich sie reinfließen oder wo auch nicht? Dadurch, dass das ständig vorherbestimmt wird, wird ihnen aberzogen, eigene Entscheidungen zu treffen. Das ist gesellschaftlich später ein Riesenproblem, weil keiner Verantwortung übernimmt, weil alle davon ausgehen: Mir wird ja gesagt, was ich wann wo zu tun habe. Manchmal ist den Schülern das sehr bewusst, also: Ich muss ständig Dinge machen, die langweilen mich, da habe ich überhaupt keine Verbindung zu. Aber oft ist es auch: Ich möchte mich gehen lassen; Selbstorganisation ist sehr anstrengend, weil ich das nicht kenne. Und sie merken, wenn sie die Schule verlassen: Ich kann dies nicht, ich kann das nicht, ich bin sehr unselbstständig. Es ist ein großer Verlust, wenn das in der Schule nicht eingefordert und gefördert wird. (…) Mehr

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie weiterlesen? Unsere Ausgabe „Vertrauen in das Leben und in mich selbst.“ können Sie bequem online bestellen.
 

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Dieser Artikel stammt aus unserer Herbst-Ausgabe 03/2022: Vertrauen in das Leben und in mich selbst.

„Worunter Schüler mit am meisten leiden, ist eine extreme Fremdbestimmung. Sie sind nicht in der Lage, sich Gedanken darüber zu machen: Was interessiert mich, was ist mir wichtig, was ist wichtig für mein Leben, welche Power hab ich, wo lass ich sie reinfließen oder wo auch nicht.“

Alma de Zárate, Jamila Tressel, Lara-Luna Ehrenschneider
Wie wir Schule machen
Knaus 2014 (E-Book)

www.herausforderung.eu
www.schule-im-aufbruch.de

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