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Porträtaufnahme der buddhistischen Nonne Pema Chödrön

Die Angst anlächeln

Wenn man mithelfen will, die Probleme der Welt zu lösen, sagt Pema Chödrön, muss man bei sich selbst anfangen. In diesem Artikel erläutert sie, wie wir uns mit der Angst anfreunden können, die uns davor zurückhält.

Text: Pema Chödrön | Foto: Christine Alicino

Ungeachtet dessen, was uns die Nachrichten suggerieren, wünschen wir uns alle, vernünftige und offenherzige Menschen zu sein. Wenn wir diesen Wunsch in einen größeren Zusammenhang stellen, können wir ihn auch darauf erweitern, allen Menschen, ja der ganzen Welt zu helfen. Aber irgendwo sollten wir anfangen und damit beginnen, die Menschen in unserem Leben zu erreichen – Familienmitglieder, Nachbarn und Arbeitskollegen. Vielleicht fühlen wir uns inspiriert, einen Beruf zu ergreifen, in dem wir unsere Zeit und Energie darauf verwenden können, auf globaler oder nationaler Ebene zu helfen. Doch selbst wenn wir den Wunsch haben, mit offenem Herzen für Frieden, Gerechtigkeit oder Umwelt zu arbeiten, ist es entscheidend, dass wir auch immer in diesem großen Maßstab an dem arbeiten, was uns unmittelbar betrifft. Das heißt, an uns selbst zu arbeiten.

Während wir diese innere Arbeit tun, können wir sie weiterhin im größeren Kontext unserer Gemeinschaft, Nation und Welt betrachten. Es ist sehr wichtig, die Arbeit an uns in diesem Zusammenhang zu sehen. Ich will nicht zu hart sein, aber ich muss feststellen, dass Menschen, die sogenannte spirituelle Arbeit leisten, recht egoistisch sein können. Auf ihrem spirituellen Weg geht es oft nur darum, für sich selbst zu sorgen, und sie merken vielleicht nicht, dass das, was ihnen ein Gefühl des Wohlbefindens und der Sicherheit gibt, eigentlich auf Kosten anderer geht.

Wenn wir leiden und nach der Quelle unseres Schmerzes suchen und nach dem, was wir dagegen tun können, dann geht das über den Wunsch hinaus, es möge uns selbst besser gehen. Im Buddhismus nennt man dies das Bodhisattva-Ideal. In den Unterweisungen des tantrischen Buddhismus sprechen wir vom Krieger oder spirituellen Krieger. Im Kern ist gemeint, dass wir an uns selbst arbeiten, Mut und Furchtlosigkeit entwickeln und unsere Fähigkeit kultivieren, andere Menschen zu lieben und uns um sie zu kümmern. Das schließt ein, dass wir auch gut für uns selbst sorgen. Doch was immer wir tun, es steht im größeren Zusammenhang des Helfens.

Wenn wir uns in der Welt umsehen – unserer unmittelbaren Umgebung und der Welt insgesamt –, sehen wir unzählige Probleme. In den Nachrichten geht es meist um Schlechtes, und das macht uns Angst. Und doch könnten wir aus diesen schlechten Umständen Inspiration für unseren Pfad des Kriegers schöpfen. Wir könnten erkennen und kundtun, dass wir gebraucht werden.

Wir werden gebraucht, weil es Aber- und Abermillionen Wesen gibt, die leiden. Wenn auch nur wenige von uns, eine kleine Gemeinschaft, es auf sich nehmen würde, ihr Leben so zu leben, dass es ihren Familien, ihrer Nachbarschaft, ihren Städten und sogar der Erde selbst hilft, würde etwas Gutes geschehen.

Wenn wir begreifen, dass wir gebraucht werden, und uns verpflichten, etwas gegen unseren Schmerz und den Schmerz um uns herum zu tun, werden wir feststellen, dass wir uns auf einer Reise befinden. Ein Krieger befindet sich immer auf einer Reise, und ein Hauptmerkmal dieser Reise ist die Angst. Diese Angst ist nichts, was beklagt, vermieden oder besiegt werden muss. Sie sollte zunächst untersucht werden, um dann eine Beziehung zu ihr aufzubauen.

Auf wackeligem Boden

Angst ist ein sehr aktuelles Thema, denn sie scheint heute buchstäblich greifbar zu sein. Man kann sie fast riechen. Die Polarisierung, Aggression, Gewalt und Lieblosigkeit, die überall auf dem Planeten herrschen, bringen unsere Angst und Nervosität zum Vorschein und geben uns das Gefühl, dass wir auf wackligem Boden stehen. (…) Mehr

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