Als Hochschullehrer haben Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier Achtsamkeitsübungen ins Bildungssystem gebracht. In diesem Prozess haben sie ein neuartiges Repertoire entwickelt, in dem individuelle, soziale und ökosystemische Übungen aufeinander aufbauen. Es wird bereits von mehr als 25 Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz angeboten. Wir trafen die drei Bildungspioniere sowie die Achtsamkeitsbotschafterin und Autorin Maria Kluge und den Journalisten Thomas Corrinth, die an der Verbreitung dieser mehrdimensionalen Praxis mitwirken, zu einem Gespräch voller überraschender Einblicke – auch in Bezug auf ihre Bedeutung für unsere krisenhafte Zeit.
Text: Mike Kauschke | Illustrationen: Julia Vanessa Maier
Seitdem der von Jon Kabat-Zinn säkularisierte Kanon der individuellen Achtsamkeitsübungen vom Body Scan über die Sitz und Gehmeditation bis zum achtsamen Yoga im Westen Verbreitung gefunden hat, wird er in vielen Bereichen angewendet, z.B. in der Bildung, in der Begleitung von Kindern, in Unternehmen, im therapeutischen Bereich und im Sport. Parallel dazu wurden von Tania Singer, Otto Scharmer und Arawana Hayashi weitere Arten von Übungen entwickelt. Sie reichen von dialogischen Meditationen (Dyaden) über achtsame Gruppenübungen bis zu ökologischen Menschenskulpturen. Es ist an der Zeit, dieses breite Spektrum systematisch in den Blick zu nehmen und damit sowohl die Praxis als auch das öffentliche Verständnis von Achtsamkeit zu erweitern.
Genau das ist das Anliegen von Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier. Die drei sind Hochschullehrer und wirken im Netzwerk Achtsame Hochschulen mit, das mehrdimensionale Achtsamkeitstrainings in den Hochschulalltag für Studierende, Lehrende, Führende und Mitarbeitende integriert. Um die Übungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben sie jetzt das Buch Achtsamkeiten geschrieben.
Reyk Albrecht arbeitet als wissenschaftlicher Geschäftsführer des Ethikzentrums an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften und der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller- Universität Jena. Dort bietet er die Achtsamkeitstrainings für Studierende der Medizin, Psychologie, Interkulturellen Wirtschaftskommunikation und Angewandten Ethik an. Darüber hinaus gibt er Seminare zu Themen wie achtsames Schreiben und Mindful Leadership.
Mike Sandbothe ist Professor für Kultur und Medien im Fachbereich Sozialwesen an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. In das Studium der Sozialen Arbeit hat er einen Achtsamkeitspfad integriert, über den Studierende im Laufe ihres Studiums mehrere aufeinander aufbauende Achtsamkeitsseminare besuchen können. An derselben Hochschule ist Hubert Ostermaier Professor für Unternehmensführung im Fachbereich Wirtschaftsingenieurwesen. Er lehrt und forscht zu Mindful Leadership und integriert Achtsamkeitsübungen in seine Lehrveranstaltungen. Darüber hinaus bietet er gemeinsam mit Mike Sandbothe die Achtsamkeitstrainings im Rahmen des Studium Integrale an. Deren positive Wirkung ist bereits medizinisch und sozialwissenschaftlich nachgewiesen.
Wege zur Praxis
Die drei sind auf unterschiedlichen Wegen zur Praxis gekommen, wobei weniger das akademische Interesse leitend war als vielmehr persönliche Erfahrungen. Reyk Albrecht z.B. hat als junger Mensch in der DDR den gesellschaftlichen Umbruch der Wendezeit erlebt, der Gewissheiten infrage stellte. Kurz zuvor war sein Großvater gestorben, was ihn mit der Vergänglichkeit konfrontiert hatte. Über ein Buch, das ihm sein Vater damals schenkte, fand er zur Sitzmeditation, die für ihn auch heute noch ein wichtiger Anker ist. „Mich im Sitzen zentrieren zu können, inmitten dieser Welt zur Besinnung zu kommen, beruhigt mich seitdem enorm und gibt mir eine innere Kraft oder inneren Frieden und Klarheit“, erklärt er. Da verwundert es nicht, dass er ein besonderes Interesse an individuellen Übungen wie dem achtsamen Sitzen oder dem achtsamen Gehen mitbringt. Hubert Ostermaier haben es nicht nur die achtsamen Bewegungsübungen, sondern auch die sozialen Übungen angetan. Mike Sandbothe ist besonders begeistert von der ökologischen Transformationskraft der achtsamen Gruppenübungen und Menschenskulpturen. Obwohl also jeder von ihnen einen besonderen Schwerpunkt hat, berichten sie übereinstimmend, dass sich die unterschiedlichen Praxisformen dynamisch ergänzen.
So hat Mike Sandbothe erlebt, wie die Übung des Body Scan die Beziehung zu seinem Sohn vertieft hat. Sein Sohn ist viel in den digitalen Welten unterwegs und konnte abends oft schlecht einschlafen. Der Vater schlug ihm vor, mit ihm einen Body Scan zu machen, und bevor er die Reise durch den Körper beendet hatte, war der Sohn eingeschlafen. Daraufhin haben die beiden daraus ein abendliches Ritual gemacht, bei dem manchmal auch der Sohn die Leitung übernimmt. Beide erleben einen nährenden Moment der Beziehung – und vor allem trainiert der Sohn sein Körperbewusstsein in einer zunehmend digitalen Welt. (…)