Christopher Germer ist klinischer Psychologe und Dozent für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Zusammen mit Kristin Neff hat er das Programm für Achtsames Selbstmitgefühl (Mindful Self-Compassion, MSC) entwickelt, an dem schon mehr als 200.000 Menschen weltweit teilgenommen haben. Im Gespräch berichtet er, wie ihn sein eigenes Leid zur Selbstmitgefühlspraxis gebracht hat und wie er erst viele Jahre später erkannte, was wirklich hinter seiner jahrzehntelangen Angst vor öffentlichen Auftritten steckte.
Interview: Stefanie Hammer | Fotos: Anja Limbrunner
Lieber Chris, wie hängen Selbstliebe und Selbstmitgefühl zusammen und wie unterscheiden sie sich voneinander?
Liebe ist der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sind. Und Mitgefühl ist der Wunsch, dass sie frei von Leiden sind. Wenn Liebe auf Leiden trifft und liebevoll bleibt, ist das Mitgefühl. Mitgefühl hat also immer etwas mit Leiden zu tun, da wir es nur praktizieren können, wenn es Leiden gibt. Aber wir können die ganze Zeit lieben. Das ist der Unterschied. Wenn wir uns selbst lieben, bedeutet das, dass wir etwas an uns attraktiv finden, oder wenn wir einen anderen Menschen lieben, sehen wir etwas Attraktives in ihm. Die unmittelbare Ursache der Liebe ist also, dass wir etwas Gutes, Entzückendes, Positives in einer anderen Person oder Sache sehen. Es zieht uns an und macht uns glücklich. Wenn wir Selbstliebe erfahren, bedeutet das, dass wir unsere Stärken erkennen und anerkennen, wir können unsere Güte sehen oder alle möglichen anderen positiven Eigenschaften. Und natürlich auch die negativen. Doch wenn wir leiden und trotzdem Liebe empfinden, dann ist das Mitgefühl.
Mitgefühl hängt also immer von einer Beziehung zu einer Person ab?
Ja, Mitgefühl ist persönlich. Es geht um ein fühlendes Wesen in Beziehung zu einem anderen fühlenden Wesen oder mehreren fühlenden Wesen. Aber im Mitgefühl ist immer ein Selbst involviert. Wir können also nur mit einer Person wirklich Mitgefühl haben – nicht mit einem Gefühl oder einer Idee. Es muss ein Wesen sein. Lieben können wir hingegen alles.
Du unterrichtest weltweit. Wie unterscheidet sich das Verständnis des „Selbst“ in anderen Kulturen von unserem von westlicher Kultur und Psychologie geprägten Selbstverständnis?
Es gibt ein relatives und ein absolutes Selbst. Das relative ist das konditionierte Selbst, das wir normalerweise mit dem Körper in Verbindung bringen. Wenn wir „ich“ sagen, meinen wir für gewöhnlich dieses relative Selbst. Einige Denkschulen gehen davon aus, dass es ein wahres Selbst oder die Buddha-Natur gibt, die aus Weisheit und Mitgefühl besteht. Auf der relativen Ebene geht es um Kultur. Man kann sich als Deutscher, US-Amerikaner oder Chinese bezeichnen; dieses Selbst wird innerhalb einer Kultur geschaffen. Das bedeutet, dass das, was ich denke, wer ich bin, mein relatives Selbst, die Folge dessen ist, wie ich in meiner Kultur behandelt worden bin. Man kann auch sagen, dass das, was ich als Individuum bin, auch durch meine Kindheit entstanden ist. Aber unsere Kultur wirkt sich auf unsere Kindheit aus. Sie reicht viele Generationen zurück und hat großen Einfluss auf unser individuelles Selbst, zum Beispiel darauf, ob wir Scham empfinden oder nicht.
Du bietest Workshops zum Thema Scham an. Woher rührt dein Interesse daran?
Ich habe selbst 20 Jahre lang an einer Schamstörung gelitten, nämlich an der Angst vor öffentlichen Auftritten. Das hat mein Interesse am Selbstmitgefühl geweckt, denn Selbstmitgefühl hat im Grunde mein Schamproblem gelöst. Außerdem habe ich mich für Scham interessiert, weil ich klinischer Psychologe bin und Scham entweder eine Ursache oder eine Folge von so gut wie jeder psychischen Störung ist. Wenn wir bei der Arbeit mit Menschen, die mit emotionalen Problemen zu kämpfen haben, die Scham nicht sehen und verstehen, übersehen wir einen sehr wichtigen Faktor, der die emotionale Notlage aufrechterhält.
Allgemein finde ich zudem sehr interessant, dass Scham die schwierigste menschliche Emotion ist und immer neue Scham erzeugt. Das Schreckliche an ihr ist meist eine Illusion und oft das Ergebnis der Vermeidung von Scham. Die lähmende Emotion Scham verliert ihre Macht über uns, wenn wir uns ihr mit Interesse und Neugierde zuwenden, vor allem, wenn wir uns in einem Moment der Scham mit Mitgefühl uns selbst zuwenden können.