Moment by Moment

Christiane Wolf | Unserem Körper lauschen

In unserer vom Verstand dominierten Zeit ist vielen von uns der unmittelbare Kontakt zum eigenen Körper abhandengekommen. Dabei spricht er ständig zu uns, wie Christiane Wolf aus eigener Erfahrung weiß. Sie berichtet, wie es durch geduldiges Hinspüren und Zuhören gelingen kann, wieder mit unserer ursprünglichen Weisheit in Kontakt zu kommen. Denn anders als unser Geist ist unser Körper schon immer im Hier und Jetzt und verbunden mit unserer Welt und unseren Emotionen.

Text: Christiane Wolf | Foto: Yuricazac / Shutterstock

Während meiner Facharztausbildung erlebte ich die Sprache meines Körpers auf überraschende Weise. Ich konnte nicht gut mit Ablehnung umgehen. Um für die Facharztprüfung in Gynäkologie zugelassen zu werden, mussten meine Kollegen und ich eine bestimmte Anzahl verschiedener Operationen durchgeführt haben. Diese sollten eigentlich gerecht zwischen den Auszubildenden aufgeteilt werden.

Da der Oberarzt, der für den OP-Plan zuständig war, jedoch ein Verhältnis mit einer meiner Kolleginnen hatte, ging ich regelmäßig leer aus. Meine Appelle an faire Bedingungen liefen ins Leere. Mein Körper reagierte mit einem Hautausschlag an beiden Unterarmen, der es mir über Monate unmöglich machte, meine Hände und Arme für eine OP zu desinfizieren. Es brauchte eine ganze Weile, bis ich begriff, was vor sich ging. Und nein, diese Einsicht führte nicht gleich dazu, dass der Hautausschlag wieder verschwand. Die Zurückweisung drückte meine Seele über meinen Körper aus. Beide sind untrennbar verbunden. Das Gehirn ist Teil des Nervensystems und dieses ist mit jedem anderen Teil des Körpers nicht nur verbunden, sondern steht mit ihm in ständigem Austausch.

Der Körper ist immer da – der Geist …

In der buddhistischen Meditation (und davon abgeleitet in der Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) beginnen wir mit Achtsamkeit auf den Körper. Das ist die erste der vier Grundlagen der Achtsamkeit, von der der Buddha in einer seiner wichtigsten Lehrreden gesprochen hat. Wir beginnen mit der Achtsamkeit dort, wo wir bereits sind (sollte man meinen!). Der Körper ist immer im gegenwärtigen Moment. Der Geist ist üblicherweise anderweitig unterwegs. In Meditationsanleitungen werden wir oft zum „Beobachten“ eingeladen und dazu, „die Aufmerksamkeit zum Meditationsobjekt zu bringen“. Manchmal benutzen wir sogar das Bild eines Wissenschaftlers, der das Geschehen ganz sachlich betrachtet. Als wären wir hier und die Körperempfindungen da drüben. Damit wollen wir natürlich erreichen, dass wir weniger mit dem Erfahrenen identifiziert sind und innerlich etwas Abstand bekommen.

Aber in einer Zeit und Kultur, in der wir sowieso überwiegend im Kopf leben, verstärkt das diese Tendenz ungewollt noch. Tatsächlich geht es um Spüren. Wir fühlen Körperempfindungen, wir empfinden sie, wie das Wort schon sagt. Ich erinnere mich an das Ende eines Retreats, als ein Teilnehmer zutiefst gerührt und den Tränen nahe mit uns allen teilte, was er von dem Retreat mitnehmen würde: „Innehalten und den Körper spüren.“ Die feine Ironie war, dass er Wissenschaftler war und zum ersten Mal verstanden hatte, welch reiche und wertvolle Informationen unser Körper uns in jedem Moment anbietet.

In der ersten Grundlage der Achtsamkeit üben wir uns im Spüren des Körpers in seinen verschiedenen Haltungen (Sitzen, Liegen, Stehen, Gehen). Alles spüren: vom Atem und den Bewegungen übers Essen bis zum Defäkieren ( ja, auch das wird in den Texten gelistet). Im Deutschen haben wir das schöne Wort „Spürsinn“. Dieser beinhaltet für mich die Neugier und Offenheit von Achtsamkeit. Beim Spüren wird uns dann die zweite Grundlage der Achtsamkeit bewusst, nämlich, ob wir eine Erfahrung als angenehm, unangenehm oder neutral wahrnehmen. Da fängt es dann schon an, kompliziert zu werden, weil ich eine Tätigkeit, z.B. Abspülen, als unangenehm interpretieren kann, die tatsächliche sinnliche Erfahrung – das Empfinden des warmen Wassers etc. – aber durchaus angenehm sein kann. Das Gleiche kann bei Schmerzen passieren: Ich finde die Erinnerung an einen Schmerz schrecklich, sodass ich bei einem erneuten Schmerzschub sofort in der Abwehr bin, während die eigentliche Empfindung in dem Körperbereich in diesem Moment zwar nicht angenehm, aber doch ganz gut zu ertragen ist. Erst in der dritten und vierten Grundlage der Achtsamkeit geht es um Gedanken und Konzepte.

Wahrnehmungsgewohnheiten

Beim Bodyscan – mit der Aufmerksamkeit schrittweise durch den ganzen Körper gehen und wahrnehmen, was ist – üben wir hinzuspüren. Die meisten Praktizierenden spüren in vielen Körperteilen erst mal nur wenig bis nichts. Das ist normal. Wenn sie etwas spüren, ist es oft unangenehm – z.B. Anspannung, Schmerzen oder unangenehme Emotionen. Kein Wunder, dass wir dem Körper so wenig Aufmerksamkeit schenken oder versuchen, ihn möglichst ganz zu ignorieren, besonders wenn wir chronische Beschwerden haben. Aber was ist, wenn der Körper versucht, etwas auszudrücken, und unsere Aufmerksamkeit sucht, so wie mein Körper damals mit dem Hautausschlag? Ich konnte das emotional noch gar nicht so tief fühlen, weil es als Verletzung und Zurückweisung unter dem offensichtlichen Ärger und der Frustration lag. Oft berichten Menschen in meinen Kursen, sie hätten erst angefangen, auf die Bedürfnisse ihres Körpers zu hören und ihn ernst zu nehmen, nachdem sie in einem Burn-out gelandet waren.

Der Hauptjob unseres Nervensystems ist, uns am Leben zu erhalten. Es muss dazu einschätzen können, ob die jeweilige Situation sicher ist. Und sicher erscheint uns, was uns vertraut ist, nicht unbedingt das, was uns guttut, und nicht einmal das, was sich gut anfühlt. Wir könnten das bekannte Zitat von Anaïs Nin „Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind“ auch umwandeln in: „Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie unser Nervensystem gelernt hat, sie zu sehen.“ Unser Nervensystem lernt auf verschiedene Weise: durch das, was uns selbst widerfahren ist, aber auch indirekt durch das, was andere, mit denen wir uns identifizieren, z.B. andere Mütter, erlebt haben und dem wir immer wieder, z.B. durch Re-Posting auf Social Media, ausgesetzt sind. Es geht noch weiter: Studien zur Epigenetik zeigen, dass einschneidende Erlebnisse den genetischen An- und Ausschalter unserer Gene verändern, was dann an die nächste Generation weitergegeben wird. (…) Mehr

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