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Porträt Peter Levine: Beitragsbild Interview Trauma und Körper | moment by moment 04/2020 Trauma und Transformation

Traumaforscher Peter Levine im exklusiven Interview

Er ist Biophysiker, Psychologe und einer der bedeutendsten Traumaforscher unserer Zeit: Peter Levines Erkenntnis, dass Trauma auch im Körper gespeichert wird, hat den heute 78-Jährigen zur Entwicklung des Somatic Experiencing geführt. Somatic Experiencing ist eine ganzheitliche Methode zur Traumaheilung, welche die Erinnerung an ein Trauma sanft über den Körper wieder ins Bewusstsein ruft. So können Psyche sowie Körper ein neues Gleichgewicht finden und alte Verletzungen zu heilen.

Interview: Norbert Classen
Bild: Andrea Matthies

 

Peter, ich weiß, du hast diese Frage schon oft beantwortet, aber ich glaube, sie ist wichtig, um zu verstehen, wie du zur Traumatherapie gekommen bist. Was war deine initiale Erfahrung, die zum Ausgangspunkt deines Ansatzes zum Verständnis von Trauma geführt hat?

Forschung ist oft Selbsterforschung. Selbstverständlich geht es bei jedem, der im therapeutischen Bereich arbeitet, auch um die eigenen Bedürfnisse. Was meinen Beruf angeht, so war es meine Arbeit mit einer Frau, die ich „Nancy“ genannt habe. Sie hatte alle möglichen physischen Leiden, die medizinisch nicht erklärt werden konnten (heute würde man sie Fibromyalgie, Reizdarm, Migräne, prämenstruelles Syndrom nennen), aber sie hatte auch heftige Panikattacken und Platzangst, sodass sie nicht das Haus und nicht mal das Zimmer ohne ihren Mann verlassen konnte, und selbst dann war es für sie eine Qual. 1969 schickte sie ein mit mir befreundeter Psychiater zu mir, weil ich einige Body-Mind-Übungen entwickelt hatte. Er glaubte, wenn ich ihr wenigstens helfen könnte, ein bisschen zu entspannen, würde sie etwas von ihrem damals sehr eingeschränkten Leben zurückgewinnen. 

Die Geschichte von Nancy

Als sie in die Praxis kam, begleitete sie ihr Mann. Ihr Puls lag bei etwa 120 Schlägen in der Minute. In ihren Augen war dieser „Reh im Scheinwerferlicht“-Blick, diese Schreckstarre. Ich versuchte, sie und ihren Mann zu beruhigen, dass wir nur ein paar Entspannungsübungen machen würden. Einige Zeit davor hatte ich in der Arbeit mit einer Gruppe von Leuten, die hohen Blutdruck hatten, entdeckt, dass der Blutdruck um 20, 30 und sogar 40 Maßeinheiten auf ein normales Niveau sank, wenn ich sie dazu bewegen konnte, bestimmte Muskeln in einer bestimmten Reihenfolge im Nacken, im Kiefer und im Kopf zu entspannen. Also probierte ich einige dieser Übungen mit ihr. Und ihre Herzfrequenz sank.

Ich war erleichtert. Wenn man eine Sache beginnt, glaubt man, alles zu wissen – aber natürlich tut man das nicht. Schon ein bisschen egozentrisch. An ihrem Puls bemerkte ich, dass sich ihr Herzschlag verringerte: von 120 auf 110, auf 100, auf 90, auf 70, und das erleichterte mich. Bloß, dass er dann plötzlich wieder auf 140, 150, 160 Schläge pro Minute in die Höhe schoss. Da sagte ich wohl das Dümmste, was ein Therapeut sagen kann: „Nancy, entspann dich. Du musst dich entspannen.“ Aber ihr Herzschlag verringerte sich tatsächlich.

Trauma als Tiger

Er sank auf 70, 60 und dann 55, 52. Da öffnete sie ganz weit die Augen, hielt damit meinen Blick fest und sagte: „Doktor, Doktor, ich sterbe. Lassen Sie mich nicht sterben. Helfen Sie mir, helfen Sie mir!“ Auch wenn das vor über 50 Jahren passiert ist, zieht sich mir immer noch die Brust zusammen, wenn ich davon erzähle. Aber ich bemerke das ganz leicht und erlaube dem, durch mich hindurchzugehen; es ist nur kurze Zeit da. Wie auch immer, ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Außer dass mir ein Bild eines Tigers in den Sinn kam, und ohne recht zu wissen, weshalb, sagte ich: „Nancy, wenn da ein Tiger ist, lauf weg, find die Felsen und bring dich in Sicherheit.“ Ich bemerkte, dass ihr Körper noch mehr erstarrte. Daher ermutigte ich sie: „Es ist okay, du schaffst das. Fühle deine Beine. Auch wenn sie schwach erscheinen, finde eine Stelle in ihnen, wo es irgendeine Kraft gibt.“ Und dann ging ein Schütteln und Zittern in sanften Wellen durch sie hindurch, zuweilen verfärbten sich ihre Finger blau, wurden ganz kalt, ihr Gesicht wurde fahl, aber dann erwärmten sich ihre Hände wieder, sie hatte eine gute Gesichtsfarbe, und dann kam wieder ein sanftes Schütteln und Zittern. Das ging so 30, 40 Minuten lang, und dann öffnete sie die Augen, jetzt aber mit einem sanften, verbindenden Blick. Sie fragte mich, ob ich wissen wollte, was passiert wäre.

Das traumatische Gefühl der Hilflosigkeit

Ich sagte Ja. Da erzählte sie: „Als Sie von dem Tiger sprachen, konnte ich ihn sehen, und das war richtig unheimlich. Als ich anfing, wegzurennen, waren meine Beine wie aus Blei, als würde ich in Schlamm, in Treibsand laufen. Aber als Sie mich ermutigten, konnte ich fühlen, wie sich meine Beine zu bewegen begannen, und ich konnte meine Hände und Arme spüren, während ich den Felsen hinaufkletterte. Als ich oben war, schaute ich runter und sah den Tiger, aber das Bild des Tigers verschwand oder verwandelte sich in ein Bild von mir, als ich vier Jahre alt war (das war 20 Jahre vorher), als mich Ärzte und Krankenschwestern auf ein Bett drückten, während sie mir eine Äthermaske übers Gesicht zogen, um eine routinemäßige Mandeloperation durchzuführen.“

Ihr Körper hatte also 20 Jahre lang wegrennen wollen, aber er konnte nicht, weil er aufs Bett gepresst wurde. Als sie dann diese neue, ermutigende Erfahrung in ihren Beinen und Armen machen konnte, widersprach das sozusagen den traumatischen Gefühlen überwältigender Hilflosigkeit. Das führte mich zu der Entdeckung, dass das auf die meisten Menschen, die ein Trauma erlitten haben, zutrifft: Ihr Körper – wie auch ihr Geist, ihr Gehirn – steckt in einer früheren Zeit fest. Und wenn der Körper tun kann, was er braucht, schwindet das Trauma, und die Person gewinnt ihr Gefühl von Ganzheit zurück – was manchmal das Selbst genannt wird und tatsächlich eine Frage der Ganzheit ist. (…)

 

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie das vollständige Interview mit Peter Levine lesen? Unsere Ausgabe „Trauma und Transformation. Wie wir über uns selbst hinauswachsen“ können Sie bequem online bestellen.

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Dieser Artikel stammt aus der Winter-Ausgabe 04/2020: Trauma und Transformation. Wie wir über uns selbst hinauswachsen.

„Diese Lebendigkeit und Präsenz sind, glaube ich, das Gegenmittel zu Traumata. Das sagt sich leichter, als es ist, aber der Grundgedanke ist tatsächlich ziemlich einfach.“

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