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Futuristischer U-Bahn-Tunnel als Beitragsbild zum Leitartikel von Gert Scobel | moment by moment 04/2020 Trauma und Transformation

Kollektives und individuelles Trauma: Der Realität ins Auge sehen

Trauma raubt den Betroffenen oft alle Lebensqualität und Hoffnung. Umso wichtiger ist es für uns alle, nicht wegzusehen, denn Trauma ist auch ein Thema, das die gesamte Gesellschaft betrifft – oft über Generationen hinweg. Nur wenn wir der Realität ins Auge sehen, so Gert Scobel, und uns gegenseitig helfen, können wir individuelle wie kollektive Traumata überwinden und in etwas Positives transformieren. Doch das ist manchmal gar nicht so einfach.

Text: Gert Scobel
Bild: Sven Reid

Wir sind gut darin, uns nicht einzugestehen, wer oder was wir wirklich sind. Oder wie wir tatsächlich miteinander umgehen. Dass wir einander töten, foltern, morden, quälen, verstümmeln. Natürlich nicht ständig und ununterbrochen. Und natürlich auch nicht Sie oder ich. Niemals. Nicht die Guten. Die Hölle, das sind bekanntlich immer die anderen. Eher ganz allgemein gesprochen ist es so, dass „der Mensch“, also die Raubaffenart, die sich selbst Homo sapiens nennt, es geschafft hat, sich den Planeten wie keine andere Spezies mit Biss gegen andere, vor allem aber mit einer nicht zu leugnenden Härte gegen die Artgenossen zu unterwerfen. Allein deshalb gibt es guten Grund anzunehmen, dass die Chronik, die in der Zukunft über uns geschrieben werden wird, kaum besser aussieht als die Chronik und die Analysen, die wir heute über unsere Vergangenheit schreiben können.

Gewalt damals und heute

Was für eine Zeit damals, dieses Mittelalter! Und was für eine Zeit heute, die irgendwann tatsächlich unsere gewesen sein wird! Liegt beides so weit auseinander? Da lagen im Dreißigjährigen oder in den Napoleonischen Kriegen Hunderte, manchmal Zehntausende Leichen auf den Feldern vor den Dörfern. Dazwischen Hunde, Vögel, Füchse, Ratten und Schweine. Wie es zuging, ist in den Dokumenten der Zeit unwiderruflich festgehalten. Wir haben uns das angetan, zweifellos. Aus guten Gründen – denn es ging in den meisten Fällen um das Gute und die Verbesserung der Lage der Menschheit. So wie heute. Millionen von Menschen sind alleine aus Syrien vertrieben worden. Auch in Bergkarabach und in der Ukraine herrscht Krieg – und nicht nur da. Die Verletzungen, das Leid und, wie wir heute sagen, die Traumata unterscheiden sich kaum. Am Ende wird alles besser. Sagten wir das nicht schon nach den Millionen von Toten in den Kriegen des letzten Jahrhunderts, nach den Toten in der Stalin-Ära, den Kriegen in Asien (Korea, Vietnam und Kambodscha), im Land des großen Vorsitzenden Mao oder anderswo, in Afrika oder Lateinamerika?

Das Zerbrechen der Dinge

Die Gewalt, die entfesselt wird, gilt übrigens nicht nur anderen Menschen, sondern auch der Natur, insbesondere natürlich den Tieren gegenüber, von denen die meisten Menschen bis heute – anders als die Biologen – immer noch glauben, dass sie eher Maschinen als Säugetiere sind; jedenfalls lebende Futtermittel, gemacht für uns, nicht fähig, die Wirklichkeit zu erleben wie wir. Dabei ist es so einfach: Schmerz ist und bleibt für ein leidensfähiges Lebewesen Schmerz. Eifrige Leser von Psychothrillern, in denen ein meist vom Leben bereits gezeichneter Kommissar oder eine Profilerin tief in die Welt der Soziopathen (meist Männer) eindringt, wissen längst, dass es immer im Kleinen und oft mit den Tieren anfängt. Und davor noch mit den Dingen, auch wenn diese natürlich keinen Schmerz empfinden können, was es auf Dauer langweilig macht, sie zu zerstören. Dinge können nicht traumatisiert werden. Sie zerbrechen einfach nur, sind weniger anpassungsfähig als Lebewesen. Eine der erstaunlichsten Erkenntnisse unserer Zeit ist möglicherweise, dass auch große Dinge zerbrechen können: Dinge wie in Tschernobyl oder Fukushima. Aber auch der Klimawandel oder das Artensterben sind Lektionen über das Zerbrechen des Großen. Die Verseuchung der Meere, die schier endlosen Züge Fliehender, die in den kommenden Jahrzehnten zunehmen werden – all das gehört dazu.

All das sind Auswirkungen von Veränderungen, hervorgerufen mehr oder weniger durch Gewalt und geeignet, viele Menschen heute und in Zukunft zu traumatisieren. All das ist erschreckend absehbar. Manchmal scheint es sogar, als schlügen die leblosen „Dinge“ selbst zurück, etwa wenn der Meeresspiegel steigt und das Wasser das, was Heimat war für Generationen, unter sich begräbt so wie einige Inseln in der Südsee. All das geschieht und ist keine Fiktion.

Diese Leseprobe endet hier. Möchten Sie den vollständigen Artikel von Gert Scobel lesen? Unsere Ausgabe „Trauma und Transformation. Wie wir über uns selbst hinauswachsen“ können Sie bequem online bestellen.

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Dieser Artikel stammt aus der Winter-Ausgabe 04/2020: Trauma und Transformation. Wie wir über uns selbst hinauswachsen.

„Es geht darum mit den Widerständen Kontatk aufzunehmen; mit dem, was war, und mit dem, was jetzt, heute, ist.“

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