Moment by Moment

MBSR-Lehrerin Paula Ramirez sitzt auf einem Sitzkissen und schaut in die Kamera: moment by moment 4/2020 Trauma und Transformation

Hingehen, wo es wehtut

Paula Ramirez reist dorthin, wo das Leid am größten ist. Die kolumbianische MBSR-Trainerin zeigt Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, wie sie mithilfe von Achtsamkeitspraktiken tief sitzende Verletzungen heilen und in der Gemeinschaft neue Kraft schöpfen können.

Text: Akiko Lachenmann

In einer einfachen Wellblechhütte irgendwo in Südsudan sitzen zehn Frauen schweigend im Kreis. Die Luft ist heiß und feucht. Eine dünne Plane bedeckt den harten Lehmboden, auf dem sie Platz genommen haben. In ihrer Mitte befindet sich eine hellhäutige Frau mit braunen Locken. Sie spricht mit leisen, sorgfältig gewählten Worten zu den Frauen: „Spürt den Boden unter euren Füßen, spürt, wie er euch trägt“, sagt sie. Paula Ramirez, eine gebürtige Kolumbianerin, hat einen weiten Weg auf sich genommen, um diesen Frauen einen Weg aus der Dunkelheit zu zeigen. Paula Ramirez ist Achtsamkeitstrainerin und Traumatherapeutin. Neben ihrer Trainerausbildung in Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) hat die 36-Jährige etliche Fortbildungen in Traumaarbeit absolviert. Denn ihre Kurse haben eine außergewöhnliche Zielgruppe: Frauen aus dem Südsudan, die Opfer sexueller Gewalt wurden, Landminenopfer aus Kolumbien, Rohingya aus Myanmar, deren Dörfer niedergebrannt wurden.

Aus eigener Erfahrung

Gäbe es eine Diagnose für diese Menschen, würde man eine akute Belastungsreaktion oder eine posttraumatische Belastungsstörung feststellen. Die Betroffenen erleben die Krisensituation innerlich wieder und wieder, sie leiden oft unter Schlafstörungen, Ängsten, ständiger Anspannung oder Depressionen. Viele ziehen sich in die Isolation zurück, andere versuchen, sich mit Alkohol oder Drogen zu betäuben. Unter normalen Umständen müsste diesen Menschen mit mehrwöchigen Therapien in spezialisierten Kliniken geholfen werden. Doch sie leben in den ärmsten Regionen der Welt, in Konfliktzonen oder Flüchtlingscamps, wo es an Ärzten mangelt, wo sich nur noch Hilfsorganisationen und Entwicklungshelfer hinwagen, um die schlimmste Not zu lindern – Leute wie Paula Ramirez. Um zu verstehen, warum eine Frau solche Strapazen und Risiken in Kauf nimmt, braucht es einen Blick in die Biografie der Kolumbianerin.

Gewalt und das kollektive Bewusstsein

Als Kind wurde sie Zeugin eines Bombenattentats vor ihrer Haustür – es waren die 80er-Jahre, als der Drogenbaron Pablo Escobar seinen Machtkampf auf offener Straße führte. „Von klein auf war ich von Gewalt und bewaffneten Konflikten umgeben“, erzählt sie. Seither treibe sie die Frage um, wie sich Gewalt auf das kollektive Bewusstsein auswirkt. Sie studierte Anthropologie, um Antworten zu finden, und ahnte schon damals, dass sie sich eines Tages für Opfer von Gewalt stark machen würde. Zur Meditation kam sie, als sie im Alter von 18 Jahren von einer Autoimmunerkrankung heimgesucht wurde. Ihr Arzt stellte sie damals vor die Wahl: „Entweder nimmst du dein Leben lang Medikamente, oder du schaust mal tief in deine Psyche.“

Das Potential von Achtsamkeit

Der Therapeut ihres Bruders, der mit dem Asperger-Syndrom zur Welt gekommen war, führte sie ein in die Welt der Achtsamkeit und Meditation. Später absolvierte sie eine Ausbildung in Somatic Experiencing bei Peter Levine und bildete sich außerdem in den Bereichen Heilung von individuellem und kollektivem Trauma fort. Ramirez entdeckte auf diesem Weg das Potenzial von Achtsamkeit bei der Verarbeitung von Gewalterfahrungen. Im Jahr 2013 gründete sie innerhalb einer kolumbianischen NGO das Programm Respira (übersetzt: „Atme“), welches seither in eine weltweit tätige NGO namens Breathe International weiterentwickelt wurde. Die NGO hat die Mission, die Friedensbewegung in von Konflikten betroffenen Ge-bieten durch Achtsamkeitspraktiken zu unterstützen. Sie hat seither mehr als 60 Trainer ausgebildet und mehr als 40.000 Menschen erreicht, die meisten durch das Breathe in Education-Programm in Schulen. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus der Winter-Ausgabe 04/2020: Trauma und Transformation. Wie wir über uns selbst hinauswachsen.“


„Bei diesen Menschen ist das Gefühl von Gemeinschaft zerbrochen. Wenn sie aber im Rahmen von MBSR zusammenkomen, entsteht eine Art gemeinsamer Erfahrungsraum – und die Möglichekit zur kollektiven Heilung.“

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