Moment by Moment

Das ganze Leben als Meditationspraxis

Der Wegbereiter der Achtsamkeit und MBSR-Begründer Jon Kabat-Zinn stellte in einem Vortrag anlässlich der 16. Jahreskonferenz des MBSR-MBCT Verbands im November 2021 klar, dass unsere eigene Meditationspraxis in der heutigen Zeit die globale Perspektive beinhalten muss. Denn die Nichtbeachtung der tiefen gegenseitigen Verbundenheit innerhalb des Ökosystems führt zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Es ist Zeit, aufzuwachen und zu lernen, wie wir uns um dieses eine Zuhause, das wir haben, kümmern können.

Text: Jon Kabat-Zinn | Foto: Chris Zvitkovits

Ich glaube, es ist von großem Wert, wenn wir für ein paar Augenblicke in die Galerieansicht von Zoom wechseln. Alle sind stumm geschaltet, aber lasst unseren Blick über die einzelnen Ansichten schweifen und in die Gesichter aller Anwesenden eintauchen. Wegen der Pandemie haben wir uns nicht in einem großen Veranstaltungssaal in Berlin versammelt. Stattdessen befinden wir uns in einem viel größeren Saal – Planet Erde genannt oder Planet-Erde/zoom.com. Lasst uns in die Gesichter eintauchen und über die hier versammelte Sangha staunen, diese wirkliche Gemeinschaft, in liebender Absicht versammelt. Und bemerken wir dabei besonders, dass wir alle zu Hause sind. Der tatsächliche Wert der Achtsamkeit als Praxis und Weg besteht genau darin, überall zu Hause zu sein, in jedem Augenblick, egal unter welchen Umständen, wie herausfordernd auch immer sie sein mögen. Ist es dir möglich, ganz unabhängig von den momentanen Lebensbedingungen, dich eben jetzt in deiner Haut, in deinem Herzen zu Hause zu fühlen und die verschiedenen Ebenen deines Seins vollständig zu bewohnen?

Wie ihr alle als MBSR- oder MB-Lehrer wisst, ist es fast unmöglich, in Worte zu fassen, wozu die kundige Kultivierung der Achtsamkeit jeden Einzelnen von uns, uns miteinander und die Menschen in unseren Kursen aufruft. Es gibt Aspekte in der Vermittlung der Achtsamkeit, die weit über das hinausreichen, was uns als Gedanken durch den Kopf geht oder aus unserem Mund herauskommt. Mit anderen Worten: Die Praxis muss verkörpert werden.

Ich erzähle euch nichts Neues. Doch ich halte es für wichtig, dass wir einander stets daran erinnern, um uns zu unterstützen. Gleichsam als ein Weg, sich gegenseitig zu helfen und an etwas zu erinnern, was wir in dem Moment vielleicht nicht wahrnehmen. Denn wir alle sind zeitweise blind, wissen besonders dahingehend, dass wir oft gar nicht wissen, was wir nicht wissen. Häufig glauben wir, wir wüssten alles, und handeln entsprechend. Allein aus diesem Grund brauchen wir offensichtlich einander, um liebevoll daran erinnert zu werden, dass es ein vorübergehender Zustand ist, wenn wir in Engstirnigkeit feststecken. Er ist nicht nur vorübergehend, sondern auch lediglich ein kleiner Teil dessen, wer wir wirklich sind.

Achtsamkeit ist eine Kunst, und für euch als Lehrende besteht die Herausforderung darin, diese Fähigkeit – mit der wir alle geboren werden, die etwas sehr Besonderes ist und zugleich überhaupt nicht besonders – in den Menschen so anzuregen, dass sie sich entfaltet. Wir sprechen von „Gewahrsein“ oder „Bewusstsein“, wie ich awareness auf Deutsch verstehe, nicht von „Achtsamkeit“, die selbstverständlich ein äußerst wichtiges Element ist, um die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Doch die Absicht hinter der Aufmerksamkeit (attention) ist – und ich bin nicht sicher, ob man das auf Deutsch sagen kann – attending, also dass wir das Gewahrsein, das uns in gewisser Weise als Spezies am meisten charakterisiert, tatsächlich sein müssen. Deswegen nennen wir uns Homo sapiens sapiens (die Art, die gewahr ist und gewahr, dass sie gewahr ist). Mehr noch, dieses Gewahrsein kann sich gewahr sein, gewahr oder nicht gewahr zu sein. Es reicht tiefer als Worte und Sprache insgesamt und hat damit zu tun, wie vertraut wir sind mit Stille, mit Wachheit, mit dem, was wir durch das Gewahrsein wissen.

Die Praxis bewusst leben

Doch dann gibt es noch etwas, dessen wir gewahr sein müssen, und das ist unser Unwissen, also wie wenig wir tatsächlich wissen. Können wir unseres Mangels an Gewahrsein gewahr sein? Können wir das Wissen unseres Unwissens sein? Das ist für einen Achtsamkeitslehrer entscheidend, damit wir uns nicht versehentlich zu einer Art Heiligenkarikatur aufblasen, zu jemandem, der alles weiß, alle Probleme gelöst hat und in seinem Leben keine Herausforderungen und keinen Stress kennt. (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus unserer Frühjahrs-Ausgabe 01/2022: Wege bereiten für eine lebenswerte Welt von morgen.

„Es geht nicht darum, gut in der Achtsamkeit zu sein, denn dabei gibt es kein Gutsein. Es ist dagegen sehr demütigend, Achtsamkeit zu praktizieren, denn ihr werdet als Erstes entdecken, wie unachtsam wir fast immer sind. Daher ist es erforderlich, den „Muskel“ zu trainieren, der uns zurück ins Wachsein bringt.

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