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Porträtaufnahme von Helle Jensen

Interview mit Helle Jensen: Beziehungsfähigkeit macht Schule

Lange galten Fachkompetenz und Durchsetzungsvermögen als die wichtigsten Fähigkeiten, die einen guten Lehrer auszeichnen. Helle Jensen, Dozentin für Familientherapie, betont jedoch, dass die Beziehungsfähigkeit und das Einfühlungsvermögen von Pädagogen und Eltern wesentlich mehr dazu beitragen, Kinder und Jugendliche zu selbstständigen, verantwortungsvollen Menschen heranreifen zu lassen.

Interview: Norbert Classen | Foto: Lars Aarø

Liebe Helle, die letzten anderthalb Jahre waren für viele Schüler durch Homeschooling geprägt, in dem die Kontakte zwischen Lehrern und Schülern, aber auch unter den Schülern nur digital möglich waren. Gleichzeitig waren zahllose Familien mit der Situation alleingelassen und überfordert. Welchen Schaden hat das deiner Meinung nach angerichtet?

Das wird gerade intensiv erforscht. In unserem Projekt in Berlin haben wir versucht, in dieser Pause von der Schule auch etwas Sinnvolles für die Eltern zu machen. Wir haben einen Blog eingerichtet, in dem es Ideen für Eltern und Familien gibt, wie man das zu Hause gut handhaben kann, wenn etwa alle gleichzeitig in einer kleinen Wohnung sein müssen. Das erzeugt ja Stress, denn die Erwachsenen sollten arbeiten, gleichzeitig für die Kinder sorgen und versuchen, die Lehrkräfte zu ersetzen, was eigentlich nicht geht, aber doch irgendwie erwartet wurde. Und ich sehe, wie froh die Kinder sind, wieder in der Schule zu sein.

Selbstständigkeit und Verantwortung sind das, was ein guter Lehrer seinen Schülern deiner Meinung nach beibringen sollte. Versagt da nicht unser herkömmliches System, in dem es mehr um Fachinhalte als um grundlegende Werte und Fähigkeiten geht?

Ja, so ist die Schule der Industriegesellschaft gewesen. Das ist hoffentlich bald vorbei, denn es wird ja in unserer heutigen Gesellschaft und auch in Zukunft nicht mehr gebraucht. Auch die OECD hat gesehen, dass es nicht nur um Fachwissen geht, sondern auch darum, dass die Kinder sozio-emotionale Kompetenzen entwickeln, etwa wie man gut für sich selbst sorgt. Man muss sich nur mal die Zahlen anschauen, wie vielen Kindern es schlecht geht. So hat sich bei Untersuchungen mit Zwölfjährigen gezeigt, dass viele unter Stress leiden, depressive Tendenzen oder psychosomatische Symptome haben. Das heißt, um das Wohlbefinden der Kinder steht es nicht gut. Vielen Lehrkräften und Eltern geht es genauso. Wir machen also etwas in unserer Gesellschaft, was nicht gesund ist. Wenn Kinder und Jugendliche etwas wissen wollen, dann finden sie es auch, sie sind in der Lage, sich das im Internet oder anderswo zu suchen. Guter Fachunterricht ist natürlich ein Teil der Schule, aber darunter braucht es ein solides Fundament, das für die Gemeinschaft, das Miteinander, die sozio-emotionalen und interkulturellen Kompetenzen sorgt. Das ist ebenso wichtig. Wir wissen jetzt seit zwanzig Jahren, dass dies das Fundament für ein gutes Lernumfeld ist. Deshalb ist es so wichtig, dass es auch den Kindern in der Schule beigebracht wird; es ist zugleich die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auf einer möglichst soliden Grundlage. Das kann man trainieren. Es hängt damit zusammen, wie Lehrkräfte und Eltern mit den Kindern umgehen, also ob es gegenseitigen Respekt gibt, ob die Kinder als Menschen gesehen werden und nicht nur als Schüler, in die man Wissen hineinstopft. Es geht vielmehr darum, dass ihre Entwicklung in einem Dialog, in einer Wechselwirkung vor sich geht.

Du sagst: Beziehungsfähigkeit ist ein noch höheres Gut als der Charakter oder die fachliche Kompetenz der Lehrkräfte. Warum? Und wie kann man diese Beziehungsfähigkeit entwickeln bzw. fördern?

Man kann das nicht ganz voneinander trennen, aber bis vor Kurzem ist nur diese fachliche Kompetenz als wertvoll angesehen worden, und auch in der Lehrerausbildung geht es bis heute in vielen Ländern darum, die fachliche Kompetenz zu stärken, und nicht darum, wie man eine Beziehung zu Kindern aufbaut. Es ist egal, um welches Fach es geht, das Wissen übermittelt man durch die Beziehung. Also wenn es nicht darum geht, etwas auswendig zu lernen, ist es nötig, dass die fachliche Vermittlung in einer Beziehung erfolgt. Nur in einer Beziehung kann sich ein Kind wirklich entwickeln (…) Mehr

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Dieser Artikel stammt aus der Herbst-Ausgabe 03/2021: Kommunikation. Sprechen und zuhören mit Wertschätzung und Präsenz.

Helle Jensen ist eine Protagonistin im Film
Teachers for Life – Lernen aus Verbundenheit:
www.teachersforlife.film

Schulprojekt:
www.empathie-macht-schule.de

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